Zur Einstimmung: Narzissmus fällt nicht vom Himmel
»Alles, was wahr ist, ist schmerzlich.«
Byung-Chul Han
Lassen Sie mich das Buch mit einer kleinen, alten persischen Geschichte beginnen.
Nasredin, der Weise, ging eines Tages über den Acker und fand in den Furchen die Scherbe eines Spiegels. Verwundert hob er sie auf und schaute eine Zeitlang in das Bruchstück hinein. Schließlich warf er sie kopfschüttelnd in hohem Bogen mit der Bemerkung weg: »Kein Wunder, dass die Menschen so etwas Hässliches wegwerfen!«
Spiegel kann man wegwerfen. Was aber machen kleine Kinder, die verfälschend bzw. falsch von wichtigen anderen Menschen gespiegelt werden?
Das Thema des Buches – narzisstische Not – handelt von den Überlebensstrategien, wenn man – oft von Geburt an – mit Zerrspiegeln zurechtkommen muss. Niemand kann ohne soziale Resonanz, Bindung, Bestätigung und Förderung leben. Wir Menschen sind soziale Wesen und finden am Gegenüber unser Eigenes. Die Psyche ist allerdings nicht »fälschungssicher«. Durch einseitiges, falsches, manipulierendes oder auch fehlendes Spiegeln lassen sich Kinder verformen, verdrehen, verkrümmen und verzerren – ganz ohne Gewalt und in guter Absicht. Wer Eltern hatte, die das Beste für das Kind wollten, aber dabei das Kind aus den Augen verloren haben, wird sich ebenfalls an die »beste Version seiner selbst« verlieren.
Das Schlimme an narzisstischen Seelenmustern ist: Weder die Betroffenen noch das Umfeld merken, dass etwas schiefläuft. Menschen in narzisstischen Nöten spüren ihre eigene Not meist nicht direkt, sondern exportieren ihr Leid: Man leidet nicht, man lässt (andere) leiden.
Dabei könnte man es bewenden lassen und die Sache den Ärzten und Therapeuten1 überlassen. Doch die Sachlage ist sehr viel umfassender: Ohne es zu wollen oder zu merken, tragen wir fast alle in dieser Gesellschaft auf die eine oder andere Weise dazu bei, dass narzisstisches Leid entsteht. Menschen, die in diesem Muster gefangen sind, werden auf vielfältige Weise in Kindergärten, Schulen, Universitäten, Partnerschaften, Medien und Arbeitsumgebungen in ihrer Not stabilisiert und bestätigt. Es wird alles Mögliche getan, nur nicht geholfen. Das hat Gründe, denen ich in diesem Buch aus psychologischer Perspektive nachgehen werde.
Ich möchte Sie dafür sensibilisieren, dass wir mehr oder weniger alle gefährdet sind, narzisstische Nöte bei uns oder anderen Men