Als Mädchen wollte ich immerHandorgelonistin werden. So etwas gebe es nicht, sagte man mir. Ich war das jüngste Mitglied im HandorgelclubMaienriesli. Mein Instrument war diatonisch. Jeder Knopf gab zwei Töne, einen beim Ziehen, einen beim Stoßen. Die Erwachsenen spielten chromatisch, mit doppelt so vielen Knöpfen. Ob ziehen oder stoßen, bei ihnen hatte jeder Knopf nur einen Ton. Ich wollte meine Handorgel und keine andere. Vater hatte sie mir an meinem neunten Geburtstag geschenkt. Seither versteckte ich mich hinter dem Luftbalg, wenn Mutter ihre Laune an mir ausließ. Das wollte ich jetzt ändern und ans Lehrerseminar gehen. Ich hoffte, sie damit glücklich zu machen.
Am Küchenschrank hing mein Foto von derVW-Schwester und den Schwarzen Mädchen, mit Francine vor der Afrika-Karte. Vater nahm die Mundharmonika aus der Küchenschublade. Da packte ich die Handorgel aus. Wir spieltenDe Tüfu esch gschtorbe.
Es war wie immer. Mutter setzte sich nach dem Nachtessen an die Heimarbeit. Vater schickte Bless in seine Hundehütte, schob am Hühnerhaus den Riegel herunter und fuhr mit dem Töff zur Nachtschicht in die Fabrik. Nach der obersten Kurve gab er Gas. Der Lichtstrahl seiner Lampe tauchte zwischen den Tannen auf wie die Taschenlampe derVW-Schwester, wenn sie nachts Hunger hatte und wir uns in der Küche trafen.
Ich zog die spitzen Schuhe aus, ging im Dunkeln mit nackten Füßen über die feuchten Stoppeln der gemähten Wiese zum Lindenbaum, dem ich schon als kleines Mädchen meinen Kummer anvertraut hatte. Ich lehnte mich mit dem Rücken an den Stamm. Ich spürte das weiche Fell von Bless an meiner Seite. Belgien war schon weit weg. Aber das Foto am Küchenschrank erinnerte mich an Francine. Es war so schön gewesen, eine Freundin aus Afrika zu haben.
Der warme Südföhn raschelte durch die Blätter, es roch nach frisch geschleudertem Honig. Drüben in den Bergen donnerte es. In Bälde würde der Föhn zusammenfallen und das Gewitter ausbrechen.
Auf Zehenspitzen ging ich durch den langen Gang, streifte den gusseisernen Holzofen vor dem Badezimmer und fühlte die Kälte am Arm. Das Licht von der Stube spiegelte sich in der gläsernen Küchentür. Ein Schatten bewegte sich. Mutter ging mit einer Handvoll Seidenkrawatten herüber zum Bügelbrett.
In der Stube blieb ich neben der Pendeluhr stehen und schaute mit dem Rücken zu Mutter auf das Ölbild mit dem Fischer auf stürmischer See und dem Lichtstreifen am Horizont. Ich wusste nicht, wo und wie beginnen. Jetzt entdeckte Mutter bestimmt jeden missglückten Nadelstich an meinem Kleid. Sie musste doch sehen, wie alles an mir zitterte. Dampf zischte aus dem Bügeleisen.
– Karl holt dich morgen ab. Er will mit dir das Wochenende verbringen, sagte Mutter.
Sie legte die gebügelten Krawatten in die Schachtel, die sie morgen für fünfzig Rappen das Stück abliefern würde. Ich schlich in mein Zimmer, tunkte den Zeigefinger ins Weihwassergefäß. Es war ausgetrocknet. Das Licht löschte ich selber.
Ich kletterte die Leiter des Doppelstockbetts hoch, kroch unter meine Federdecke, gewohnt, dass Mutter vor dem Schlafen kommen würde, um mit mir zum schwarzen Herzen zu beten. Es blieb still. Das Bett unter mir blieb leer. Meine Schwester war inzwischen ausgezogen. Blitze erhellten mein Zimmer, leuchteten im Sekundentakt durch die Spalte der hölzernen Jalousieläden. Ich zählte die Sekunden, bis der Donner kam. Das Gewitter war noch weit entfernt.
Ich konnte es kaum glauben, Mutter erlaubte mir ein Wochenende mit Karl.
Ich hatte Mühe einzuschlafen. Ich gähnte, ich schluckte, ich drückte die Hände an die Ohren. Die Uhr schlug Mitternacht. Ein letztes Zischen aus Mutters Bügeleisen.
Über Nacht hatte der Regen die Erde