: Marie-Hélène Lafon
: Die Quellen
: Atlantis Literatur
: 9783715275338
: 1
: CHF 14.30
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 128
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein abgelegener Hof in der Auvergne, wo Kühe grasen und Milch für den berühmten Käse Saint­-Nectaire geben. »Man ist hier am Ende der Welt. Niemand kommt vorbei, außer dem Briefträger, dem Viehhändler oder dem Tierarzt.« Draußen hängt Wäsche, die drei Kinder klettern auf Bäume, und die junge Frau - sie wird von ihrem Mann verprügelt.Immer am Samstag. Seit neun Jahren. Niemandem kann sie es sagen, selbst wenn sie ihr Leben kaum aushält und auch die Kinder die Beklemmung spüren. Der Hof, den sie gemeinsam mit ihrem Mann nach der Hochzeit gekauft hat, ist zum Gefängnis ge­worden. Denn mit einer Scheidung, so weiß sie, steht die ganze Existenz auf dem Spiel.Anhand einzelner weniger Tage, die sich von 1967 bis ins Heute erstrecken, erzählt der Ro­man von einer Frau, die lange leidet und plötz­lich aufbegehrt, und von einem Bauern, dem nur der Hof wichtig ist. Die körperlichen wie auch seelischen Härten eines Daseins in dieser von Landwirtschaft geprägten Gegend werden greifbar, wo eine Familie zerbricht - und doch auch ein Wunder geschieht. Das Wunder, dieser rohen, emotionsarmen Welt entkommen zu sein und heute als Schriftstellerin in Paris zu leben.

Marie-Hélène Lafon, 1962 geboren, lebt heute in Paris. Die meisten ihrer rund fünfzehn Bücher, die vielfach übersetzt wurden, spielen im Cantal in der Auvergne, wo Lafon aufgewachsen ist. Sie gehört zu den markantesten literarischen Stimmen im gegenwärtigen Frankreich. 2016 erhielt sie den Prix Goncourt de la Nouvelle, 2020 den Prix Renaudot. Auf Deutsch liegen Die Annonce, Geschichte des Sohnes und Joseph vor, alle übersetzt von Andrea Spingler. Die Quellen ist Lafons neuster Roman und hat sich im Original über 50.000 Mal verkauft.

Samstag,10., und Sonntag,11. Juni1967


Er schläft auf der Bank. Sie rührt sich nicht, ihr Körper verharrt auf dem Stuhl, die Mädchen und Gilles sind im Hof. Nach dem Essen sind sie sofort hinausgegangen, sie wissen, dass man keinen Lärm machen darf, wenn er auf der Bank schläft. Claire hat die beiden Türen hinter sich geschlossen, die Küchentür und die zum Flur. Der Tisch ist nicht abgeräumt, sie wird sich später darum kümmern, wenn er seinen Mittagsschlaf beendet hat. Im Garten trocknet Wäsche, Nicole hat sie auf die Leine gehängt, bevor sie gegangen ist, alles muss abgenommen, gebügelt, aufgeräumt, für morgen früh müssen die Kleider der Kinder und auch ihre eigenen zurechtgelegt und die Schuhe geputzt werden. Sie freut sich, zu ihren Eltern hinunterzufahren, sie möchte sich freuen, sie werden bei ihr, bei ihrer Familie sein, man kann lachen und laut reden, er hat nicht die Oberhand; bei ihr zu Hause hat er nicht die Oberhand, er isst und schweigt. In drei Wochen, am30. Juni, wird sie dreißig. Dreißig, drei Kinder, Isabelle, Claire und Gilles, zwei Mädchen und ein Junge, sieben, fünf und vier Jahre alt, ein Bauernhof, ein schöner Bauernhof, dreiunddreißig Hektar, ein großes Haus, siebenundzwanzig Kühe, ein Traktor, ein Kuhhirt, ein Gehilfe, ein Dienstmädchen, Auto und Führerschein. Zum Glück hat sie den Führerschein; ihre Mutter hatte recht, darauf zu bestehen, dass sie ihn macht. Isabelle, Claire, Gilles. Die drei Namen kommen immer auf ihren Listen vor; drei Kinder, drei Namen, dreiunddreißig Hektar, dreißig Jahre. Sie klammert sich an ihre Listen. Isabelle und Claire sind auf den Schaukeln; Gilles schaut ihnen zu, er sitzt auf der Mauer, die Arme vor der Brust verschränkt, er streckt seine nackten Beine aus und ahmt den Takt der Schwestern nach, die Schwung holen. Sie wird kein weiteres Kind bekommen, er ist das letzte, sie mag es, ihn an sich zu drücken, ihn zu behüten, er ist sanft, er riecht süßlich warm nach Baby, noch. Er lacht, wenn er aufwacht, er ist fröhlich, wenn sie morgens allein im Schlafzimmer sind, sie und er. Die Mädchen entziehen sich schon, sie spürt es; sie laufen, sie springen, sie sind ernst, sie schweigen. Isabelle ist in die Schule gekommen, der Schulbus hält an der Straße, morgens und abends; die Lehrerin sagt, sie lernt gut. Sie macht ihre Aufgaben am Küchentisch, man braucht sie nicht zu beaufsichtigen. In etwas mehr als einem Jahr wird Claire in die erste Klasse kommen. Sie denkt an ihre Mutter und ihre Tanten, die immer sagen, dass alles schnell vorbeigeht, das Leben, die Zeit, die jungen Jahre, wenn man die Kinder bei sich im Haus hat. Sie fängt an, es zu verstehen, sie schluckt in der Stille des Mittagsschlafs, sie stützt ihr Kinn auf die Hände und die Ellbogen zu beiden Seiten ihres Tellers auf das Wachstuch, sie schluckt wieder. Bald acht Jahre ist die Hochzeit her; sie rechnet nach, noch sechs Monate und siebzehn Tage, am30. Dezember1959 haben sie geheiratet. Sie denkt nicht gern daran, besser nicht. Acht Jahre Ehe und vier davon auf dem Hof, hier, weit weg von allem, am Ende der Welt. Sie möchte aufstehen, hinausgehen, die Wäsche abnehmen, tun, was getan werden muss, ein wenig Vorsprung gewinnen vor dem Baden der Kinder, das am Samstag länger dauert, wenn man am nächsten Tag zu den Großeltern fährt, zu ihr und zu ihm nach Hause, die drei müssen tadellos aussehen, immer. Ihr Körper ist schwer. Sie wartet.

Nicole ist sechzehn, bald siebzehn. Vor ihr war Annie da, über drei Jahre, ihr erstes Dienstmädchen. Annie war wirklich nett, so lebhaft und fröhlich, lustig, von morgens bis