: Ursula Fricker
: Fangspiele
: Atlantis Literatur
: 9783715275321
: 1
: CHF 15.10
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 224
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ines und Lenni, eine über Jahrzehnte gefes­tigte Liebe, eine vertrauensvolle Partner­schaft. Sie Dermatologin und er Landarzt, leben sie mit ihrer Tochter, die Cello spielt, im Berliner Umland. Von ihrem Haus aus ist in der Senke der schieferfarbene See zu sehen, kein großer See, ein fehlendes Puzzle­teil, wie Ines immer sagt, als fehlte ausge­rechnet dort das letzte Puzzleteil der Erde. In ihr Leben, das der beste Freund eindeutig zu kitschig findet, platzt die charismatische Edda hinein. Mit ihrer Idee von absoluter Kunst wird sie für Ines zunehmend zum Faszi­nosum. Die spricht plötzlich von unerfüllten Jugendträumen und vernachlässigt alles, was ihr einmal wichtig war - ihre Tochter, ihren Beruf, Lenni. Als Edda sie für ein innovatives Theaterprojekt gewinnen will, lässt Ines ihr altes Leben fallen und stiehlt sich einfach davon.

Ursula Fricker, 1965 in Schaffhausen geboren, hat sechs  Romane veröffentlicht, u.a. ihr viel beachtetes Debüt Fliehende Wasser (2004), Außer sich (2012), nominiert für den Schweizer Buchpreis, und Gesund genug (2022). Die in der Märkischen Schweiz bei Berlin lebende Autorin wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt im Herbst 2022 mit dem Georg Fischer Kulturpreis der Stadt Schaffhausen. Für Fangspiele (2024) erhielt sie einen Werkbeitrag der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia und den Brandenburgischen Kunst-Förderpreis für Literatur.

Ines’ Mantel! Er streicht mit der flachen Hand über die Zeitung. Wieder und wieder. Das Foto eines Mantels. Ausgebreitet liegt er auf einem Edelstahltisch. Derber Wollwalk, mittleres Blau. Ein öliger Fleck auf dem Papier, genau dort, wo der Kopf sein müsste. Küstriner Vorland. Auf freiem Feld, liest er, sei eine Frau gefunden worden, erfroren. Keine Hinweise auf Fremdverschulden, die Tote sei noch nicht identifiziert, es werde um Mithilfe der Bevölkerung gebeten, Alter um die fünfzig, sie habe diesen blauen Mantel getragen.

 

Bis auf die Virologen am Tisch neben der Salatbar und ihm ist noch niemand in der Kantine; um nicht die halbe Mittagspause an der Kasse anstehen zu müssen, kommt er gern früh, früher als die anderen. Unter lautem Palaver drängt soeben die Biomedizin durch die Tür, gleich dahinter folgen die Seltenen Erkrankungen.

Er hat ihr den Mantel zum dreißigsten Geburtstag geschenkt. Jeden Winter hat sie ihn getragen, alle Moden waren an ihm vorübergegangen; wie um die Jahre zu behexen, hat sie ihn getragen und getragen, bis er an manchen Stellen dünn, an anderen schon faserig, bald wirklich nur noch ein Lappen war. Gelegentlich zog sie ihn noch im Garten an – da sieht er sie im Beet stehen; den blauen Mantel offen, säbelt sie verdorrte Stängel ab. Ines, ruft er, dein Handy, er muss gar nicht sagen, wer dran ist. Sie richtet sich auf, fährt sich mit dem Unterarm über die Stirn, in der einen Hand das alte Brotmesser, in der anderen ein Bündel trockene Stängel. Er sieht ihr Gesicht aufleuchten. So hell, denkt er, hat ihr Gesicht schon lange nicht mehr geleuchtet.

Wie hätte er ahnen können, dass alles bereits in Unordnung war. Wäre sie einfach verliebt gewesen. Eine Verliebtheit, einen Seitensprung hätten sie mit links überstanden. Aber es war viel simpler und zugleich viel komplizierter als das.

 

Warm ist ihm plötzlich, zu warm, zu eng, er zieht sich den Kittel aus, den Pullunder unter dem Kittel, knöpft das Hemd auf. Quatsch, denkt er, warum sollte diese Frau ausgerechnet Ines sein. Zuhauf solcher Mäntel gibt es vermutlich da draußen, blaue Mäntel mit breitem Kragen und Perlmuttknöpfen. Weil sie es tatsächlich sein könnte, wird ihm erschrocken bewusst, diese unbekannte Tote könnte Ines sein.

Einen Schlussstrich hat er gezogen.

Für Lea und für sich selber.

Neubeginn. Nichts als ein schlechtes Foto von einem alten blauen Mantel braucht es offenbar, und alles kommt wieder hoch. Er trennt die Seite aus der Zeitung heraus, faltet sie, schiebt sie in seine Kitteltasche. Hätte er etwas tun können, hätte er mehr tun können? Was hat er übersehen? Wie ist es gewesen, wirklich gewesen. Von Anfang an. Oder hat alles ohne Anfang angefangen?

 

 

Verbirgst du etwa auch etwas vor mir, fragt Ines mit einem schelmischen Seitenblick, das alle unsere gemeinsamen Jahre, schnippt sie mit den Fingern, in nichts auflöst? Kurz nach eins ist es, als sie an der Aral-Tankstelle in Strausberg vorbeikommen, Lea schläft bei Peggy, sie haben Besorgungen in der Stadt gemacht, sind essen und hinterher im Kino gewesen,45 Years, vielleicht stöbere sie dann auch mal in seinen alten Kartons und entdecke einen ihr vollkommen fremden