1. KAPITEL
Holly Heflin war äußerst unbehaglich zumute, als sie die Rechtsanwaltskanzlei in Conard City betrat. So unsicher hatte sie sich lange nicht mehr gefühlt. Dabei hatte sie schon viele unangenehme Situationen gemeistert. Doch das hier war etwas anderes. Das Testament ihrer Großtante wurde eröffnet – und sie war, soweit sie wusste, Alleinerbin. Sie hatte mithin allen Grund, beklommen zu sein.
Mit der Nachtmaschine war sie nach Denver gekommen, hatte am Flughafen nach dem günstigsten Angebot für einen Mietwagen gesucht und war sofort losgefahren, um pünktlich zum Termin zu erscheinen.
Während der Fahrt durch Conard County stiegen die Erinnerungen in ihr hoch. Mit ihnen kam das Gefühl der Taubheit, das der Traurigkeit gewichen war, die sie bei der Nachricht von Marthas Tod überwältigt hatte.
Ihre Großtante war ihre einzige Verwandte gewesen. Jetzt war Holly vollkommen allein auf der Welt. Ein ganz neues, seltsames Gefühl.
Als sie in der Kanzlei eintraf, wurde sie von der Empfangsdame in ein geräumiges, altmodisch eingerichtetes Büro geführt. Der zur Kahlköpfigkeit neigende Mann hinter dem Schreibtisch musste wohl der Anwalt sein. Und dann bemerkte sie den Cowboy, der auf einem der Stühle vor dem Schreibtisch saß.
Sofort begann ihr Puls zu rasen. Cliff Martin? Hier? Sein Name stand an erster Stelle auf der Liste der Menschen, die sie nie mehr wiedersehen wollte. Seit fast zehn Jahren versuchte sie nun schon, ihn zu vergessen. Und jetzt saß er leibhaftig vor ihr.
Entsetzlich!
Er war schon immer attraktiv gewesen, doch nun, mit zweiunddreißig, sah er geradezu unverschämt gut aus. Wind und Wetter und die vergangenen zehn Jahre hatten sein Gesicht noch markanter werden lassen. Alle Weichheit war daraus verschwunden. Nur die Augen waren noch von diesem unglaublichen Türkisblau, das sie seit jeher fasziniert hatte.
Die Erinnerung an vergangene Leidenschaften stach wie ein Pfeil in ihre dumpfe Traurigkeit. Ihr Magen verkrampfte sich. Sie hatte diesen Mann nie wiedersehen wollen. Warum zum Teufel reagierte ihr Körper so … bereitwillig?
Bei ihrem Eintreten hatten sich beide Männer gleichzeitig erhoben. Obwohl Holly es vermied, in Cliffs Richtung zu schauen, entging es ihr nicht, dass er größer zu sein schien. War das möglich – oder trog sie die Erinnerung? Breite Schultern, schmale Hüften …Hör auf!Hör sofort damit auf! Das brauchte sie jetzt wirklich nicht.
„John Carstairs“, stellte sich der Anwalt vor, und sie reichte ihm die Hand. „Schön, Sie kennenzulernen, Miss Heflin. Sie erinnern sich an Cliff Martin?“
Holly drehte sich zu Cliff um. Wenn er doch bloß nicht so aussähe, als sei er gerade einem Werbeprospekt entsprungen! In seinen dunklen Haaren lag kein Schimmer von Grau. Sie dagegen fühlte sich auf einmal richtig alt.
Cliff Martin. Der Mann, der ihrer Tante in den vergangenen Jahren auf der Ranch geholfen hatte. Der Mann, der einen Großteil des Weidelands von Martha gemietet hatte. Der Mann, dem sie den Laufpass gegeben hatte. Ihre Hand zitterte leicht, als Holly sie ihm entgegenstreckte.
„Du bist also zurückgekommen“, begrüßte er sie.
Hörte sie da einen Vorwurf in seiner Stimme? Rasch ließ sie die Hand sinken, wandte sich von ihm ab und setzte sich auf den freien Stuhl. Als Sozialarbeiterin, die täglich Umgang mit Problemkindern und ihren Familien hatte, wusste sie, wann es besser war, sich zurückzuhalten und zu schweigen. Innerhalb von Sekunden konnte eine Situation eskalieren und außer Kontrolle geraten. „Ich bin schon öfter hier gewesen“, entgegnete sie gleichmütig.
Die Männer nahmen Platz. Um Cliff Martin nicht ansehen zu müssen, konzentrierte sie sich auf John Carstairs. „Ich war die ganze Nacht unterwegs“, erklärte sie. „Sie müssen ein wenig Nachsicht mit mir haben.“
Sofort drückte er auf einen Knopf seiner Wechselsprechanlage. „Jackie, könnten Sie Miss Heflin einen Kaffee bringen?“ Fragend schaute er sie an.
„Schwarz, bitte!“
„Schwarz, Jackie. Vielen Dank.“
Er lehnte sich zurück. Es lag eine Erwartungshaltung im Büro, die Holly nach der anstrengenden Reise noch nervöser machte. Schließlich ergriff der Anwalt das Wort. „Ich bedaure zutiefst, dass wir uns unter diesen Umständen treffen müssen. Ihre Tante war eine wundervolle Frau.“
„Ja, das war sie“, bestätigte Holly aufrichtig. „Ich werde sie sehr vermissen.“
„Wirklich?“ Cliffs Stimme klang gedehnt.
Wütend funkelte sie ihn an. „Was soll das heißen? Du hast doch keine Ahnung.“
„Sehr oft hast du sie jedenfalls nicht besucht.“
Das stimmte nicht, aber erneut verkniff sie sich die Antwort. Dieser Mann musste nicht alles wissen, und Holly dachte nicht im Traum daran, sich vor ihm zu rechtfertigen. Was sie im Übrigen gar nicht nötig hatte.
„Ich bitte Sie“, beschwichtigte der Anwalt. „Wir wollen doch keinen Streit.“
Er sprach Holly aus der Seele. Sie war zu müde