Denise von Schoenecker bog mit ihrem Wagen in den Park von Gut Schoeneich ein. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass sie wieder einmal später von Sophienlust zurückgekommen war, als sie vorgehabt hatte. Ihre Familie hatte wahrscheinlich bereits mit dem Abendessen begonnen.
Denise seufzte leise auf. Manchmal machte sie sich wirklich Vorwürfe, weil sie glaubte, sich nicht genug um ihren kleinen Sohn Henrik zu kümmern. Aber Henrik hatte im Gegensatz zu den Kindern von Sophienlust ein Elternhaus, in dem er sich geborgen fühlen konnte.
Denise parkte den Wagen und stieg aus. Während sie zu dem schlossartigen Wohnhaus des Gutes ging, dachte sie über die kleine Monika nach, die an diesem Tag nach Sophienlust gebracht worden war. Weinend hatte sich die Kleine an die Tante geklammert und sie beschworen, sie wieder mitzunehmen, aber diese hatte sich umgewandt und war ohne einen letzten Gruß davongefahren. Denise und Else Rennert, die Heimleiterin, hatten alle Hände voll zu tun gehabt, um Monika zu trösten.
Denise von Schoenecker hatte aus Monikas Personalakten ersehen, dass die Kleine erst vor Kurzem ihre Eltern verloren hatte. Ihre unverheiratete Tante, eine selbstständige Schneiderin, hatte sie bei sich aufgenommen. Doch das Kind war ihr schon nach vier Wochen zu viel geworden.
Wir müssen für Monika so bald wie möglich gute Eltern finden, überlegte Denise, während sie das Gutshaus betrat. Aus dem Eßzimmer hörte sie zugleich die Stimme ihres neunjährigen Sohnes Henrik.
»Wo Mutti heute nur wieder bleibt«, sagte der Junge mit einem vorwurfsvollen Unterton.
Denise lächelte. Sie wusste genau, was für ein gutes Herz Henrik hatte. Wenn es darum ging, einem Kind zu helfen, zögerte er nicht einen Augenblick, für dieses Kind einzutreten.
Denise öffnete die Tür zum Esszimmer. »Es tut mir leid, dass es wieder so spät geworden ist«, sagte sie. »Ich komme sofort. Ich möchte mich nur noch etwas frisch machen.«
»Gestattet!«, sagte Henrik und vollführte dazu mit der linken Hand eine großartige Geste.
Denise eilte in ihr Schlafzimmer und zog sich innerhalb weniger Minuten um. Schnell strich sie mit dem Kamm über ihre glänzenden schwarzen Haare.
Alexander von Schoenecker, Nick und Henrik waren bereits mit dem
Essen fertig, saßen aber noch am
Tisch.
»Du siehst abgespannt aus«, meinte Alexander. Er musterte seine Frau besorgt. »Du solltest dir etwas mehr Ruhe gönnen, Denise.«
»Das nehme ich mir jeden Tag von Neuem vor«, sagte Denise und lächelte ihrem Mann zu. »Heute Nachmittag wollte ich eigentlich nur kurz in Sophienlust vorbeischauen.«
Denise erzählte Alexander und ihren Söhnen nun von der kleinen Monika. »Sie ist erst sechs Jahre alt, aber wenn man ihr in die Augen sieht, glaubt man, allen Schmerz der Welt darin zu lesen.«
»Sie wird in Sophienlust bestimmt glücklich werden«, behauptete Dominik, genannt Nick. Er stammte aus Denises erster Ehe mit Dietmar von Wellentin. Er war jetzt sechzehn Jahre alt und besuchte das Gymnasium der kleinen Kreisstadt Maibach. Nach dem Tod seiner Urgroßmutter, Sophie von Wellentin, hatte er Sophienlust mit der Auflage geerbt, aus dem herrschaftlichen Besitz ein Heim für elternlose und Geborgenheit suchende Kinder zu machen. Diese Aufgabe hatte seine Mutter übernommen. Sie verwaltete den Besitz bis zu seiner Großjährigkeit.
»Wir wollen es hoffen«, sagte Denise und legte ihr Besteck auf den Teller. »Frau Rennert hat Monika im Zimmer von Heidi untergebracht.«
Heidi Holsten war mit ihren vier Jahren das jüngste Dauerkind in Sophienlust und gleichzeitig auch der Sonnenschein des Heims.
Nach dem Essen saßen Denise und Alexander von Schoenecker bei einer Tasse Kaffee in dem mit wertvollen Stilmöbeln eingerichteten Salon beisammen. Nick hatte sich, um Schularbeiten zu machen, bereits auf sein Zimmer zurückgezogen, während Henrik zu Füßen seiner Eltern mit einem Rennwagen-Modell spielte.
»Henrik, es wird Zeit«, meinte Denise.
»Ach, Mutti!«
»Kein, ach, Mutti!« Denise lächelte ihrem Sohn liebevoll zu. »Auf, ins Bett!«
»Nur noch fünf Minuten«, bettelte der Junge.
»Und dann noch fünf Minuten«, meinte Alexander. »Glaube mir, wir kennen das, mein Sohn.«
»Wir kommen nachher noch zu dir hinauf, um dir gute Nacht zu sagen«, versprach Denise.
Henrik warf seinen Eltern einen fragenden Blick zu. Dann stand er auf und zuckte resignierend mit den Schultern. Er wusste genau, wie weit er gehen konnte. »Aber ihr kommt doch bestimmt?«, vergewisserte er sich.
»Natürlich«, sagte Alexander und griff nach der Hand seiner Frau. Zärtlich drückte er sie. »Wie sieht es eigentlich in Sophienlust aus?«, fragte er nach einer Weile. »Könnte noch ein Kind aufgenommen werden?«
»Ein Platz wäre noch frei«, antwortete Denise. »Denkst du an ein bestimmtes Kind?«
»Ja«, erwiderte Alexander. »Als ich vor zwei Jahren in Frankreich war, lernte ich dort einen jungen Mann namens Joachim Schöller kennen. Er rief mich heute aus London an und fragte, ob wir seine kleine Tochter für drei Monate in Sophienlust aufnehmen könnten. Er ist von Beruf Bergwerksingenieur und mus