1
Leo Känzig stutzte, als er sich in der Führerkabine des Siebner-Trams nach hinten zu seiner Jacke umdrehte, die am Haken beim Fenster zum Passagierraum baumelte. Bald würde er sie überziehen und in den verdienten Feierabend entschwinden können. Ihm war, als hätte er soeben durchs Seitenfenster etwas Unerhörtes gesehen. Seine Beobachtung hatte er nur flüchtig aus dem Augenwinkel und in der Vorbeifahrt gemacht.
Weil es bereits auf eins in der Früh zuging, waren alle Gassen und Plätze um den Bahnhof Enge dunkel und menschenleer. Doch auch als sein Tram2000 über die vielen Weichen auf den Bahnhofplatz holperte und ihn wieder ein wenig wachrüttelte, wollte ihm das Bild nicht aus dem Kopf gehen: Da hatte doch ein Mann auf dem Gehsteig gelegen! Er war dunkel gekleidet gewesen, hatte einen Arm steif von sich gestreckt und das Gesicht nach unten gerichtet.
Passanten hatte Känzig dort keine entdeckt. Auch nicht an der Haltestelle des Dreizehners etwas weiter oben, wo ein Lichtschein über den vom letzten Regen noch feuchten Asphalt schimmerte und diesen zum Glitzern brachte, als wäre er Teil der Lucy-Weihnachtsbeleuchtung in der Bahnhofstrasse.
Oder hatte er geträumt? Machte sich das Schlafmanko, das ihn seit der Geburt seiner zweiten Tochter Laura vor einem knappen halben Jahr plagte, in Form von Halluzinationen bemerkbar? Die Känzigs führten eine egalitäre Ehe, seine Frau Simone hatte ihm noch vor dem ersten Zungenkuss das Versprechen abgenommen, er müsse sich in der Betreuung des Nachwuchses ebenso engagieren wie sie. Simone hatte Kinder gewollt, mindestens zwei, lieber noch mehr. Aber das Windelwechseln und Zubettbringen wollte sie hübsch halbiert haben.
Leo und Simone kannten sich seit über zwanzig Jahren, seit ihrer Zeit am Gymnasium, wo sie Parallelklassen besucht und sich auf einer Studentenparty ineinander verliebt hatten. Leo liebte seine Simone und seine Töchter Luisa und Laura, auch wenn der Alltag mit ihnen schon sehr fordernd war. Und ihn ab und zu von seinen Leidenschaften abhielt. Vom Radfahren mit seinen Kollegen etwa. Oder vom Kältebaden, das er im Winterhalbjahr so gut wie täglich praktizierte.
Es ist nicht immer leicht, eine Familie zu haben, dachte Känzig, als er am Bahnhof stoppte und die Türen des Trams öffnete. Aber keine Familie zu haben, wäre erst recht nicht leicht. Was würde er tun ohne seine drei Lieben? Wofür würde er hier bei den Verkehrsbetrieben der Stadt ZürichVBZ Geld verdienen, wenn nicht für Frau und Kind? Dabei war sein Job teils gar nicht so familienfreundlich. Seine Nachtschichten und Wochenenddienste ließen sich nicht so einfach in die Familienagenda einfügen, die Simone immer auf der Küchenablage griffbereit hatte und die lückenlos zu befüllen sie niemals vergaß. Geburtstage, Hochzeiten, Ferienwochen, Großelternbesuche, Zahnarztvisiten – alles immer drin. Bereits in seinem früheren Job als Chefermittler bei der Kantonspolizei in Uster hatte er viele unregelmäßige Dienste gehabt, was die Planbarkeit des Familienlebens ebenfalls stark tangiert hatte.
Känzig wusste, dass Simone deshalb heimlich erleichtert gewesen war, als er vor zwei Jahren seinen Polizeihut an den Nagel hängen musste. Er hatte bei den Ermittlungen im Fall des »Todesengels von Uster« übers Ziel hinausgeschossen und illegal Abhörwanzen und Videoüberwachungen eingesetzt. Damit wollte er den Krankenpfleger überführen, den man für eine rätselhafte Häufung von Patiententoden verantwortlich gemacht hatte. Auch dass er im Berufsalltag zwingend mit einer Schusswaffe unterwegs sein musste, hatte Simone immer sehr beunruhigt. Sie hatte gehofft, dass er einen neuen Job finden würde, der weniger gefährlich und nervenaufreibend war. Und in Sachen Arbeitszeiten etwas mehr in Richtung Nullachtfünfzehn zielte. Endlich wären die Sondereinsätze und nächtlichen Verhörmarathons vorbei, die bei seinen Polizeiermittlungen in Uster öfters vorgekommen waren. Das hatte in Simones Agenda nicht nur einmal für wüste Radiergummischlieren, durchgestrichene Vorfreudenotizen und frustriert herausgerissene Seiten gesorgt.
Aber, ehrlich gesagt, war es im neuen Job nicht viel besser. Als Tramfahrer hatte Leo Känzig genauso zahlreiche unregelmäßige Einsätze zu absolvieren. Nachtschichten und Wochenenddienste gehörten zu seiner Arbeit wie der Senf zur Wurst am Sternengrill. Immerhin waren diese Sonderschichten meist weit im Voraus festgelegt. Und er hantierte im neuen Job zwar nicht mehr mit einer Pistole, aber gerade ungefährlich war es auch nicht, ein fast vierzig Meter langes Tram mit einem Gewicht von beinahe vierzig Tonnen durch die Stadt zu bugsieren. Der Bremsweg einer solchen Komposition war bei na