1. KAPITEL
Sechs Stunden zuvor
S o einfach konnte es gar nicht sein.
Danr stand nahe dem Waldrand und beobachtete im Schutz der Bäume eine einsame Gestalt, die am steinigen Ufer des Sees gleich unter ihm entlangging. Er konnte das Gesicht der Frau nur von der Seite sehen, dennoch gab es keinen Zweifel, dass es sich um Hilda handelte. Selbst wenn sie nicht ihre dunklen Haare zu einem bis zu den Knien reichenden Zopf geflochten hätte, erkannte er sie immer noch an der vertrauten steifen Körperhaltung, ebenso an der von sich eingenommenen leicht schrägen Kopfhaltung und dem trotzig vorgestreckten Kinn. Er musste ihr auch nicht ins Gesicht sehen, um zu erfahren, welche Miene sie zur Schau stellte. Er kannte diesen Gesichtsausdruck, der kundtat, dass sie in ganz Maerr dieeinzige wirklich wichtige Frau war, niemals zuvor hatte es eine Frau wie sie gegeben. Sie war die Frau von Jarl Sigurd und damit hundertmal wichtiger als Danrs leibliche Mutter, die dessen Geliebte gewesen war.
Doch diese Zeiten lagen lange zurück.
Vor drei Jahren war alles anders geworden, denn mit dem blutigen Massaker am Tag der Hochzeit seines Halbbruders Alarr war die Welt, so wie sie ihnen vertraut gewesen war, auf den Kopf gestellt worden. Ihr Zuhause war zerstört, der Ruf der Familie ruiniert worden. Ihren Vater, den mächtigen Sigurd, hatte man genauso ermordet wie Alarrs Verlobte Gilla, die Frau seines Halbbruders Brandt sowie zahlreiche Krieger, die noch versucht hatten, das Attentat abzuwenden.
Jeden in Maerr hatte dieses Massaker zu einem anderen Menschen werden lassen, allen voran Danr und Rurik sowie ihre Halbbrüder Brandt, Alarr und Sandulf. Nach dem Anschlag waren die Suche nach Antworten und das Sinnen auf Rache für jeden von ihnen wichtiger gewesen als alle anderen Belange. Wichtiger sogar als die Frage, wer von ihnen das Königreich des Vaters weiterführen sollte.
Schließlich hatten sie alle ihre Heimat verlassen, um sich auf die Suche nach den Attentätern zu begeben, während die verwitwete Hilda sich auf die Insel Skíð vor der Westküste von Alba flüchtete und dabei von Joarr begleitet wurde, dem Steuermann des Vaters.
Anfangs hatte ihre schnelle erneute Heirat weniger als ein Jahr nach dem Mord an ihrem Mann nach einer vernünftigen Reaktion auf die erheblichen politischen Unruhen in Maerr ausgesehen. Doch nun waren Fragen aufgekommen, ganz entscheidende Fragen, auf die Antworten gefunden werden mussten.
Nur deshalb war er nach Skíð gekommen: um Fragen zu stellen. Weiter nichts. So hatte er es mit Sandulf vereinbart, als sich ihre Wege getrennt hatten. Seine Aufgabe war, Hilda mit den entdeckten Beweisen zu konfrontieren und von ihr eine Erklärung einzufordern. Auf keinen Fall sollte er Vergeltung üben, ganz gleich,wie diese Erklärung lauten würde. Natürlich war Sandulf noch immer auf der Suche nach anderen Antworten, weil er nicht wahrhaben wollte, dass seine Mutter irgendetwas mit dem Massaker zu tun hatte. Doch Danrs Gefühl sagte ihm genau das Gegenteil. Alle fünf Söhne von Sigurd waren jeder auf seine Art demjenigen auf den Fersen, der die Attentäter nach Maerr geschickt hatte, und er wusste mit absoluter Sicherheit, dass Hilda irgendwie in diese Sache verstrickt war. Er musste bloß noch den Beweis dafür liefern.
Aber so einfach konnte es nicht sein. Er hielt sich seit noch nicht einmal einem Tag auf der Insel auf, und dann lief ausgerechnet Hilda ihm als Erste über den Weg? Dazu noch allein und allem Anschein nach unbewaffnet. Nein, das wäre zu einfach gewesen. Er war für seine Schläue ebenso bekannt wie für seine gründlichen Planungen und seine geschickten Strategien im Gefecht. Er stürmte nie auf ein Ziel los, wenn er sich nicht zuvor ein klares Bild von der Situation gemacht hatte. Doch genau in diesem Moment kümmerte ihn nicht, was er sonst alles tat. Sein Temperament ging beinahe mit ihm durch, als er Hilda nun dort sah. Er wollte Antworten haben, und die würde er sich holen, ganz egal auf welche Weise. Und zwarjetzt sofort .
Er suchte ein letztes Mal aufmerksam den Strand ab, um sicherzustellen, dass niemand sonst in der Nähe war. Erst dann setzte er sich in Bewegung und überquerte zielstrebig den Kieselsteinstrand. Der See befand sich in einem langgestreckten, schmalen Tal, ihn säumte am südwestlichen Rand der Insel eine Hügellandsc