: Martin Levin
: Der ungezähmte Wald Eine neue Sicht auf unser wichtigstes Ökosystem
: Edel Books - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
: 9783841908247
: 1
: CHF 14.80
:
: Natur und Gesellschaft: Allgemeines, Nachschlagewerke
: German
: 224
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Der deutsche Wald: Sehnsuchtsort, Mythos, Identitätsstifter, aber auch Wirtschaftsfaktor. Deutschland hat die größten Holzvorräte in ganz Europa, mehr noch als Finnland oder Schweden, und ist Spitzenreiter in der Forstwirtschaft. In Zeiten der Klimakrise und des Artensterbens kommt dem Wald allerdings eine neue Schlüsselrolle zu, er soll gleichzeitig sauberes Wasser und gute Luft generieren, CO2-Emissionen limitieren, nachhaltige Roh- und Brennstoffe liefern und Naturschutz und Erholung garantieren. Aber ist er dazu überhaupt noch in der Lage? Denn es geht unseren Wäldern so schlecht wie nie. Martin Levin ist Verfechter des Naturwaldes, der, weitgehend in Ruhe gelassen, sich selbst reguliert. Der langjährige Oberförster des Göttinger Stadtwaldes, erklärt das Ökosystem Wald und seine Geheimnisse und zeigt, wie der resiliente Wald von morgen aussehen könnte.

Martin Levin war 33 Jahre lang Leiter des Stadtwald Göttingen, der Lehrforstamt der dortigen Universität und die gute grüne Stube der Göttinger ist. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Waldökologie, urbane Forstwirtschaft und Umweltpädagogik. Seit seiner Pensionierung 2018 arbeitet er als Waldberater im In - und Ausland. 

Prolog – Kein schöner Land:Natur- und Waldverständnis in Europa


Die Westküste Europas ist erreicht, und eine halbe Stunde später blicke ich durch das Flugzeugfenster auf Wald. Heimatliche Gefühle durchströmen mich, begeistert zeige ich meinem Försterkollegen aus Gambia die Landschaft unter uns. Das ist Deutschland! Wir Förster seien stolz auf unsere nachhaltigen, naturnahen und ertragreichen Wälder!

Mein Kollege schaut eine Weile schweigend aus dem Fenster, dann wendet er sich mir zu und sagt: „Ich sehe da unten keinen Wald, ich sehe Plantagen.“ Im ersten Moment bin ich irritiert, dann werde ich nachdenklich.

Wer hat dich, du schöner Wald, / Aufgebaut so hoch da droben … Eichendorffs Gedicht „Der Jäger Abschied“ beschreibt das innige Verhältnis, das wir Deutsche zu unserem Wald haben. Der Wald ist ein Wohlfühlort, ein Ort der Seele, des Ursprungs. Mit Wald verbinden wir Heimat schlechthin. Quer durch alle Bevölkerungsschichten und Altersgruppen geht man leidenschaftlich gerne „raus in die Natur“, und der Ausflug ins Grüne, der Waldspaziergang, ist geradezu typisch für uns Deutsche.

Anders jedoch, als vor allem im Dritten Reich propagiert, ist unsere positive Einstellung zum Wald nicht seit Urzeiten in der „Volksseele“ verwurzelt; sie hat auch nichts mit einem wie auch immer gearteten intimeren Naturverständnis von uns Deutschen zu tun. Sie ist vielmehr eine Reaktion auf die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts und auf den damit verbundenen, sich stark beschleunigenden Wandel, der als bedrohlich empfunden wurde: Während alles sich veränderte, erschien der Wald als ein Hort der Beständigkeit. In ihm schien die gute alte Zeit bewahrt geblieben zu sein.

Der Wald, der im 19. Jahrhundert besungen und gemalt wurde, war indes schon lange kein Urwald oder Naturwald mehr. Die Wälder, die wir auf Gemälden dieser Zeit erkennen können, sind das Ergebnis „moderner“ Forstwirtschaft. Caspar David Friedrichs GemäldeDer Chasseur im Wald zeigt einen Jäger inmitten einer Fichtenplantage, wie man sie bis heute in den Mittelgebirgen findet: Die Bäume stehen ordentlich in Reih und Glied. Kein Wunder, wurden sie doch von preußischen Förstern gepflanzt. Alle Fichten sind gleich hoch und gleich alt, unter ihnen wächst kein Kraut mehr. Der Wald, den wir Deutschen so innig lieben, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als ein auf maximalen Holzerlös optimierter Wirtschaftswald. Und dies bereits im 19. Jahrhundert!

Die moderne Forstwirtschaft ist, wie der Diesel- und der Ottomotor, eine Errungenschaft unseres Landes, auf die wir nicht zu Unrecht stolz sind. Wir haben den nachhaltigen Waldbau erfunden: Wir ernten nur so viel Holz, wie nachwächst. Die deutsche Forstwirtschaft ist getragen von grenzenlosem Optimismus und dem Glauben an den Fortschritt. Sie markiert wie die Industrialisierung eine Aufbruchszeit und ist Kennzeichen einer neuen Epoche, die sich mit aller Kraft den Naturwissenschaften, den verbesserten Methoden der Landvermessung und der Mathematik zuwandte. Ihr Ziel ist bis heute ein möglichst großer Holzertrag. Dementsprechend ist „Waldbau“ die wichtigste Disziplin der Forstwirtschaft, sie bedeutet so viel wie „Landwirtschaft mit Bäumen“.

Unsere Plantagenwälder lieben wir deswegen so sehr, weil wir kaum etwas anderes kennen. Wilde, ursprüngliche N