[42]Über die Wasserfälle des Orinoco bei Atures und Maypures
In dem vorigen Abschnitte, welchen ich zum Gegenstand einer akademischen Vorlesung gemacht, habe ich die unermesslichen Ebenen geschildert, deren Naturcharakter durch klimatische Verhältnisse mannigfaltig modifiziert wird und die bald als pflanzenleere Räume (Wüsten), bald als Steppen oder weitgedehnte Grasfluren erscheinen. Mit den Llanos, im südlichen Teile des Neuen Kontinents, kontrastieren die furchtbaren Sandmeere, welche das Innere von Afrika einschließt, mit diesen die Steppen von Mittel-Asien, der Wohnsitz weltbestürmender Hirtenvölker, die einst, von Osten her gedrängt, Barbarei und Verwüstung über die Erde verbreitet haben.
Wenn ich damals (1806) es wagte, große Massen in ein Naturgemälde zu vereinigen, und eine öffentliche Versammlung mit Gegenständen zu unterhalten, deren Kolorit der trüben Stimmung unseres Gemüts entsprach, so werde ich jetzt, auf einen engeren Kreis von Erscheinungen eingeschränkt, das freundlichere Bild eines üppigen Pflanzenwuchses und schäumender Flusstäler entwerfen. Ich beschreibe zwei Naturszenen aus den Wildnissen der Guyana:Atures undMaypures,109 die weitberufenen,110 aber vor mir von wenigen Europäern besuchtenWasserfälle des Orinoco.
[43]Der Eindruck, welchen der Anblick der Natur in uns zurücklässt, wird minder durch die Eigentümlichkeit der Gegend als durch die Beleuchtung bestimmt, unter der Berg und Flur, bald bei ätherischer111 Himmelsbläue, bald im Schatten tiefschwebenden Gewölkes, erscheinen. Auf gleiche Weise wirken Naturschilderungen stärker oder schwächer auf uns ein, je nachdem sie mit den Bedürfnissen unserer Empfindung mehr oder minder in Einklang stehen. Denn in dem innersten, empfänglichen Sinne spiegelt lebendig und wahr sich die physische Welt. Was den Charakter einer Landschaft bezeichnet: Umriss der Gebirge, die in duftiger Ferne den Horizont begrenzen, das Dunkel der Tannenwälder, der Waldstrom, welcher tobend zwischen überhangende Klippen hinstürzt: alles steht in altem, geheimnisvollem Verkehr mit dem gemütlichen112 Leben des Menschen.
Auf diesem Verkehr beruht der edlere Teil des Genusses, den die Natur gewährt. Nirgends durchdringt sie uns mehr mit dem Gefühl ihrer Größe, nirgends spricht sie uns mächtiger an als in der Tropenwelt: unter dem »indischen Himmel«, wie man im frühen Mittelalter das Klima der heißen Zone benannte. Wenn ich es daher wage, diese Versammlung113 aufs Neue mit einer Schilderung jener Gegenden zu unterhalten, so darf ich hoffen, dass der eigentümliche Reiz derselben nicht ungefühlt bleiben wird. Die Erinnerung an ein fernes, reichbegabtes Land, der Anblick eines freien,[44]kraftvollen Pflanzenwuchses erfrischt und stärkt das Gemüt, wie,von der Gegenwart bedrängt,114 der emporstrebende Geist sich gern des Jugendalters der Menschheit und ihrer einfachen Größe erfreut.
Westliche Strömung und tropische Winde begünstigen die Fahrt durch den friedlichen Meeresarm, der das weite Tal zwischen dem Neuen Kontinent und dem westlichen Afrika erfüllt.115 Ehe noch die Küste aus der hochgewölbten Fläche hervortritt, bemerkt man ein Aufbrausen sich gegenseitig durchschneidender und überschäumender Wellen. Schiffer, welche der Gegend unkundig sind, würden die Nähe von Untiefen oder ein wunderbares