3 Grundhaltungen: Wertschätzung, Empathie, aber keine Kongruenz?
Anknüpfend an das vorherige Kapitel beginnen wir dieses über die Grundhaltungen in der Beratung mit einem Zitat von Carl Rogers. Es impliziert, dass es oft einen Wunsch nach Veränderung gibt, um Probleme der Gegenwart besser lösen zu können, und dass das hierfür notwendige Potenzial bereits in jeder Person vorhanden ist:
»Das Individuum steht im Mittelpunkt der Betrachtung und nicht das Problem. Das Ziel ist es nicht, ein bestimmtes Problem zu lösen, sondern dem Individuum zu helfen, sich zu entwickeln, so dass es mit dem gegenwärtigen Problem und mit späteren Problemen auf besser integrierte Weise fertig wird. Wenn es genügend Integration gewinnt, um ein Problem unabhängiger, verantwortlicher, weniger gestört und besser organisiert zu bewältigen, dann wird es auch neue Probleme auf diese Weise bewältigen« (Rogers 2013, S. 36).
Prägendster Vordenker von Rogers ist Otto Rank. Rank (1884–1939) gehörte mit Carl-Gustav Jung, Alfred Adler und Wilhelm Reich zu dem Kreis der Schüler Freuds, die aus eben diesem ausgeschlossen wurden, weil sie sich von elementaren Aspekten der Psychoanalyse und hier v. a. von Freuds biologischem Determinismus abwandten. Rank beschrieb schon 1929 das Grundparadoxon von Therapie (und letztlich auch von Beratung) darin, dass die therapeutische Situation dadurch charakterisiert sei, weswegen Menschen in Therapie gingen: Passivität, Abhängigkeit und Willensschwäche (vgl. Rank 1929). Therapie und Beratung müssten aber gekennzeichnet sein von Aktivität, Unabhängigkeit und Willensstärke. Der zu beratende Mensch
»ist nicht ein krankes Individuum, das darum kämpft, ›normal‹ zu werden, sondern ein rebellierendes Individuum, das darum kämpft, frei – und angebunden zugleich! – zu sein. Der sogenannte ›normale‹ Mensch kommt um viele dieser oft sehr schmerzvollen Kämpfe herum, aber der Preis ist hoch: Es ist Stillstand von Entwicklung und psychisches Sterben« (Quitmann 1991, S. 145).
Rank begreift den rein innerlichen Willenskonflikt grundsätzlich positiv – als menschliche Fähigkeit, Willen und Gegenwillen zur gleichen Zeit zu mobilisieren.
»Damit wird nicht nur das ganze Problem, von allen vergangenen und gegenwärtigen Inhalten befreit, in das Individuum selbst verlegt, sondern auch die einzige Lösung und Erlösung vom Individuum und in ihm selbst gefunden« (Rank 1929, S. 88 f.).
Im Sinne Ranks ist der Gesprächsansatz eine Hilfe des Bewusstwerdens. Rank unterscheidet
»zwischen dem ›Bewusstmachen‹, das eigentlich ein Erklären, ein Deuten ist, und dem Bewusstwerden als einem im Individuum selbst sich vollziehenden Prozess, der mittels der Verbalisierung erfolgt« (Rank 1929, S. 34).
So verändern sich die Dynamik in der Beratung sowie das Verhältnis zwischen Berater:in und Klient:in. Berater:innen müssen nicht mehr die Rolle der alten Weisen spielen, welche für jede Beratungssituation die passenden Methoden, wie von Zauberhand, aus dem Ärmel schwingen lässt. Im Fokus steht vielmehr ein gemeinsames Erkunden der Innenwelt von Klient:innen. Eine gute Berater:in-Klient:in Beziehung ist damit für Rogers ein Kernstück einer gelungenen Beratung. Sie ist wichtig, um Entwicklung und Entfaltung zu erlangen und die Ressourcen des eigenen Selbst so zu nutzen, dass das Leben gelebt werden kann, das jede:r sich wünscht (vgl. Rogers 2013, S. 53).
Damit wir in der Beratung Klient:innen erfolgreich humorvoll-konfrontativ begegnen können, ist es wichtig, dass wir innerlich absolut von der Stärke und dem Potenzial unserer Klient:innen überzeugt sind. Die Haltungen der Wertschätzung, Empathie und Kongruenz, welche Rogers formuliert, sind Vorbedingungen für eine Beratungsbeziehung, in welcher Klient:innen einerseits den Raum bekommen, ihre individuelle Wahrnehmung und ihre Ressourcen in die Beratung einzubringen, und andererseits auch bei der Erkundung noch nicht ganz bewusster Empfindungen von Berater:innen sensibel begleitet werden. Als nachwirkende Resonanz können diese Haltungen der Berater:innen den Umgang der Klient:innen mit Angst und Verwirrung in Verbindung mit eigenen Positionen, Wahrnehmungen und Gefühlen nachhaltig verändern (vgl. Rogers 2013, S. 46). Sie können Klient:innen auch nach der Beratung helfen, ihr Bewusstsein für ihre Empfindungen im Hier und Jetzt weiterzuentwickeln und diesen Empfindungen empathisch