: Tom Saller
: Ich bin Anna Roman
: Kanon Verlag
: 9783985681044
: 1
: CHF 19.90
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 256
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Anna Freud und die legendärste Therapie der WeltWien im Kriegswinter 1917/18: Sigmund Freud plant, sein analytisches Erbe an seine jüngste Tochter weiterzugeben. Doch Anna kämpft ihren eigenen Kampf. - Ein suggestiver Roman von Bestsellerautor und Tiefenpsychologe Tom Saller.Tief in ihrem Inneren strebt Anna Freud nach Unabhängigkeit vom schier übermächtigen Vater. Als Nesthäkchen lebt sie noch immer daheim, als der Erste Weltkrieg die Menschen blind macht. So etwa einen von Sigmund Freuds wenigen Patienten: Ludwig Stadlober kann nach einem Senfgasangriff nicht mehr sehen und sucht Hilfe beim berühmten Analytiker. Hinter seinem Rücken trifft sich Anna mit dem schüchternen Mann. Behutsam erkunden beide die eigenen Bedürfnisse. Doch zunehmend machen sich bei Anna verdrängte Triebe bemerkbar, sodass das Unglaubliche geschieht: Sigmund Freud nimmt die eigene Tochter in Therapie.Zwanzig Jahre später. Die Nazis marschieren 1938 in Österreich ein. Anna und Stadlober begegnen sich erneut, und plötzlich geht es um das Überleben der Familie Freud.Virtuos erzählt Tom Saller die Geschichte einer therapeutischen Dreiecksbeziehung, der Entdeckung des Todestriebes und der Selbstbehauptung von Anna Freud.

Tom Saller, geboren 1967, hat Medizin studiert und arbeitet als Psychotherapeut. 2018 erschien sein Debütroman »Wenn Martha tanzt« und wurde umgehend ein großer Erfolg. Mit seinem neuesten Roman »Ich bin Anna« widmet er sich erstmals seinem beruflichen Sujet: Sigmund Freud und der Psychoanalyse. Tom Saller lebt im Bergischen Land bei Köln.

1


Wir waren pünktlich. Überpünktlich. Um genau zu sein, waren wir fünf Minuten vor der Zeit.

»Ich hole mir ein Glas Milch«, sagte ich.

»Wir haben Krieg. Es gibt keine Milch«, entgegnete Mutter.

»Aber ich habe vorhin welche in der Küche gesehen.«

»Die ist für die Melange deines Vaters, nicht für dich.«

Tante Minna tätschelte mir die Hand. »Sei nicht traurig, Annerl, es kommen wieder bessere Zeiten.«

Sie war Mutters jüngere Schwester, gleichzeitig deren molligere und freundlichere Ausgabe. Nach meiner Geburt, vor mehr als zwanzig Jahren, war sie zu uns gezogen, um Mutter bei der Versorgung ihrer Kinder zu unterstützen, und geblieben. Ich lächelte ihr zu.Bessere Zeiten. Natürlich. Aber wann, und für wen?

Wir warteten auf Papa – Mutter, Tante Minna und ich, die verstaubten Reste unserer einst so vielköpfigen, lebhaften Familie –, so wie wir jeden Mittag auf ihn warteten: fünf Minuten vor der Zeit, damit das Essen um Punkt eins aufgetragen werden konnte. Auf keinen Fall durfte es zu einer Verzögerung kommen, durfte Papas Tagesablauf durcheinandergerat