Kapitel 1
Wer kann es ergründen?
Blut, überall Blut!
Klaas Heiland stand in der offenen Tür und konnte den Blick nicht abwenden. Wie gelähmt kam er sich vor – unfähig, den Kopf von dem Panorama des Grauens abzuwenden. Fast schon magnetisch hing seine gesamte Aufmerksamkeit an den Spuren des Verbrechens, die sich vor ihm erstreckten. An dem Blut, das sich in langsam trocknenden Lachen auf den Bodenfliesen sammelte. Und an dem Gesicht.
Der Mann hatte die Augen noch immer geöffnet. Leer und starr glotzten sie zur Decke des Waschhauses, als fänden sie dort oben zwischen den flackernden Neonröhren die Antwort auf unausgesprochene Fragen. Sein grau meliertes Haar klebte ihm blutverschmiert am Hinterkopf, seine dick umrandete Brille hing ihm schief auf der Nase. Selbst der rote Schal, den er künstlerhaft zu Tweed-Sakko und Rollkragen trug, und das kleine Notizbuch, das aus seiner Sakkotasche ragte, waren besudelt.
Überall war Blut.
Klaas Heiland war froh, als er es endlich schaffte, die Augen zu schließen. Hinter seinen Lidern wartete die erlösende Schwärze. Er nutzte sie für ein schnelles Gebet.
Erst danach begann er zu ermitteln.
Wenige Stunden zuvor
»Und was meint die Bibel mit dieser Textstelle? Na, wer kann es mir sagen?«
Abwartend schaute Pastor Klaas Heiland in die fünfundzwanzig jungen Mienen vor seinem Pult. Die Klasse 3a der Grundschule war an diesem Vormittag vollzählig zur Religionsstunde erschienen, was angesichts der gerade erst abebbenden Magen-Darm-Sache hier im Haus alles andere als selbstverständlich war. Auch Heiland, der jede Woche für Religionsstunden in der Schule Station machte, hatte sich den Infekt neulich bei einem Unterrichtsbesuch eingefangen und danach zwei Tage lang das Pfarrhaus hüten müssen. Nun war er aber wieder auf dem Damm, genau wie seine Schülerinnen und Schüler.
»Ella?«, wandte er sich an eine von ihnen. »Hast du vielleicht eine Idee?«
Ella Schäfer zählte zu seinen fleißigen Ministrantinnen drüben in der Dorfkirche. Heiland kannte sie als aufgewecktes Mädchen, das alles andere als dumm war. Vielleicht kam sie ja auf eine Idee.
»Hmmm«, machte das Kind. Nachdenklich kratzte sie sich am Kinn. »Dass der Mensch herzkrank ist, so wie mein Opa Heini?«
Heiland lachte kurz. »So ganz falsch ist das nicht, Ella. Die Bibel findet uns Menschen nämlich alles andere als perfekt. Das sieht man an vielen unterschiedlichen Textstellen. Wir mögen nach dem Antlitz des Schöpfers erschaffen worden sein, doch im Gegensatz zu ihm sind wir alles andere als unfehlbar. Aber geht es vielleicht noch konkreter? Was genau unterstellt der Text uns denn hier an dieser Stelle?«
Luca aus der dritten Reihe runzelte die Stirn. »Es ist das Herz ein trotzig und verzagtes Ding«, las er das Zitat aus dem Buch Jeremia erneut laut vor, das Heiland an die Tafel geschrieben hatte. »Wer kann es ergründen?«
»Ganz genau.« Der Pastor nickte. »Was bedeutet das?«
Es war ein grauer Mittwochvormittag in Sonntal am See, der kleinen Gemeinde im bayerischen Nirgendwo. Dichte Wolken hingen über dem Dorf, die ihren Regen bislang noch für sich behielten, und ein scharfer Wind pfiff dazu erwartungsvoll um die Häuser. Ein Unwetter bahnte sich an.
Heiland kannte derartig ungemütliche Tage aus seiner alten Heimat an der Ostsee zur Genüge, wo das Wetter launischer gewesen war als der Gott des Alten Testamentes und das aufgepeitschte Meer mitunter sogar die Stehtische im Außenbereich von Erich Konstantins Hafen-Fischbude weggespült hatte. In Sonntal jedoch, wo der einundsechzigjährige Geistliche Heiland nun schon seit einer ganzen Weile seinen Dienst am Altar verr