1. KAPITEL
Macy Tarlington war nie sicher, ob ihre Verkleidung funktionierte oder nicht. Heute schienen der beigefarbene Schal, der ihre dunklen Locken verbarg, und die Sonnenbrille, hinter der sie ihre blauvioletten Augen versteckte, die gewünschte Wirkung zu tun. Niemand war ihr gefolgt. Dem Himmel sei Dank! Sie sah ihrer Mutter ein bisschen zu ähnlich, was an sich nicht schlecht war. Ihre Mutter war für ihre Schönheit berühmt gewesen, doch der beliebten Hollywooddiva zu ähneln hatte nicht nur Vorteile. Ständig wurde Macy von den Paparazzi verfolgt, die der Meinung waren, allein ihre DNA gäbe ihnen das Recht, Macys Privatsphäre zu missachten, vor allem in ihrer Trauerzeit.
Tina Tarlington mochte ja ein Weltstar gewesen sein, und ihre Fans mochten glauben, sie würden alles über sie wissen – von ihren Filmrollen, für die sie mehrfach ausgezeichnet worden war, über ihre drei gescheiterten Ehen bis hin zu ihrem Starruhm –, aber sie hatten sie nicht wirklich gekannt. Nicht so, wie Macy sie gekannt hatte.
Das beeindruckende New Yorker Auktionshaus auf der Madison Avenue zu betreten machte sie nervös. Auf dem Weg zum Verkaufsraum stieß sie mit ihrer Freundin Avery Cullen zusammen. Avery entsprach so gar nicht dem Klischee einer reichen amerikanischen Erbin, sie war eher bescheiden und zurückhaltend.
„Ich hoffe, ich dränge mich dir nicht zu sehr auf“, flüsterte Macy.
Averys herzliches Lächeln beruhigte sie, und die Freundin hakte sich bei ihr ein. „Keine Sorge, Macy. Deswegen bin ich doch hier – um dich zu unterstützen.“
Da die Sonnenbrille ihre Augen verbarg, konnte Macy sich unbeobachtet in dem großen und elegant eingerichteten Verkaufsraum umsehen, in dem Tina Tarlingtons wertvolle Erbstücke versteigert werden würden. Wunderschöne, mit rotem Samt bezogene Stühle standen in mehreren Reihen hintereinander. Nur in der Mitte war ein Gang frei gelassen worden. Die Wände waren in hellen Tönen gehalten, und funkelnde Kristallkronleuchter tauchten den Raum in ein warmes Licht.
„Ich kann dir gar nicht genug dafür danken, dass du das hier mit mir durchstehst.“ Macy drückte Averys Arm. Ihre Freundin war extra aus London angereist, um heute bei ihr zu sein.
„Ich weiß doch, wie hart das hier für dich ist.“
„Hart und notwendig, leider. Die Sachen meiner Mutter so ausgestellt zu sehen verursacht mir wirklich Magenschmerzen. Oh Gott, ich wünschte, das wäre alles schon vorbei.“
Avery drückte Macys Hand.
„Die zwei Stühle da hinten sind unsere“, sagte Macy leise zu ihr. „Das habe ich im Vorhinein arrangiert.“
Auf dem Weg zu ihren Plätzen stellte Macy fest, dass alle Stühle im Raum besetzt waren. Noch im Tod zog Tina Tarlington die Massen an.
Sobald sie saßen, wurde ihnen ein Katalog gereicht, in dem alle Gegenstände der Auktion aufgelistet waren. Macy nickte Ann Richardson, der Geschäftsführerin von Waverlys, zu. Sie hatte die Auktion in ihr Haus geholt. Sie erwiderte Macys stillen Gruß, bevor sie sich wieder den Kunden in der ersten Reihe widmete.
Macy schlug den Katalog auf und blätterte darin, las die Einträge über die Gegenstände aus dem Vermögen ihrer Mutter. Neben den Beschreibungen standen jeweils eine Nummer und eine Schätzung des Geldwertes. Schon beim ersten Eintrag musste sie innehalten. Erinnerungen stiegen in ihr hoch, und sie spürte, wie Tränen in ihren Augen brannten.
An Macys zehntem Geburtstag war Tina in das Magic Castle Mansion gestürmt, gerade als die Feier beginnen sollte. Sie trug noch immer das Kostüm ihrer aktuellen Rolle als Eleanor Neal, die ihr eine Oscar-Nominierung einbrachte. Sie kam direkt vom Set zur Geburtstagsfeier in den exklusiven Club, in dem sonst weltberühmte Musiker auftraten. Die Filmarbeiten hatten mal wieder länger gedauert als erwartet. Aber Macy hatte es nicht gekümmert, dass ihre Mutter zu spät zur Party und auch noch in Kostüm und Maske erschienen war. Sie war auf ihre Mutter zugerannt und hatte sich ihr in die Arme geworfen und sich so fest an sie gedrückt, dass Tina lachte, bis ihr die Schminke übers Gesicht lief. Es war ein magischer Augenblick gewesen und einer von Macys schönsten Geburtstagen.
Jetzt wurde das rosafarbene Seidenkleid mit Pailletten, das ihre Mutter an jenem Tag getragen hatte, ganz nüchtern als „Kleid, das Tina Tarlington in dem hochgefeierten FilmQuest for Vengeance, 1996, trug“, beschrieben.
Das gesamte Leben ihrer Mutter schien zu kurzen Werbetexten und Listennummern zusammengeschrumpft zu sein. Macys Magenschmerzen wurden schlimmer.
Sie schlug den Katalog zu und atmete tief durch. Sie durfte nicht zusammenbrechen. Nicht jetzt. Sie musste diese Auktion durchstehen. Still redete sie sich selbst gut zu und rief sich in Erinnerung, warum der Verkauf der Schätze und Juwelen ihrer Mutter notwendig war.