: Gaea Schoeters
: Trophäe Roman
: Paul Zsolnay Verlag
: 9783552074088
: 1
: CHF 16.30
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 256
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Gaea Schoeters' Roman ist ein 'ethischer Mindfuck' (Dimitri Verhulst) - provokant, radikal und eine erzählerische Ausnahmeerscheinung. Am Ende bleibt die Frage: Was ist ein Menschenleben wert?
Gaea Schoeters? preisgekrönter Roman ist von einer außerordentlichen erzählerischen Wucht. Die Tiefenschärfe, mit der sie die Geräusche und Gerüche der Natur beschreibt, lässt einen sinnlich erleben, was einen moralisch an die Grenzen zwischen Richtig und Falsch führt.
Hunter, steinreich, Amerikaner und begeisterter Jäger, hatte schon fast alles vor dem Lauf. Endlich bietet ihm sein Freund Van Heeren ein Nashorn zum Abschuss an. Hunter reist nach Afrika, doch sein Projekt, die Big Five vollzumachen, wird jäh von Wilderern durchkreuzt. Hunter sinnt auf Rache, als ihn Van Heeren fragt, ob er schon einmal von den Big Six gehört habe. Zunächst ist Hunter geschockt, aber als er die jungen Afrikaner beim flinken Jagen beobachtet ... Ein Roman von radikaler Konsequenz.

Gaea Schoeters, geboren 1976, ist eine flämische Autorin, Journalistin, Librettistin und Drehbuchautorin. 2012 hat sie den Großen Preis Jan Wauters für ihren kreativen Umgang mit Sprache gewonnen. Für Trophäe wurde sie mit dem Literaturpreis Sabam for Culture ausgezeichnet. Der Roman wurde von der niederländischen Presse sehr positiv besprochen.

Eins

Der Jäger


Zwei Monate zuvor


Der Knall des Schusses zerreißt die morgendliche Stille. Obwohl er alle Muskeln seines Körpers angespannt hat, bringt der Rückschlag des schweren Jagdgewehrs Hunter aus dem Gleichgewicht; die Kraft der Waffe schleudert seinen linken Fuß fast einen halben Meter in die Luft. Van Heeren, der neben ihm steht, lacht.

»Die überraschen einen immer wieder, oder? Nasty Fuckers, diese alten Doppelbüchsen. Aber ein klasse Schuss.«

Zusammen mit Hunter geht er zum anderen Ende des Schießstandes. Hunter stellt zu seiner Zufriedenheit fest, dass er das Ziel tatsächlich perfekt getroffen hat. Genau ins Schwarze, wo jetzt ein schmales Einschussloch sichtbar ist, kaum breiter als sein kleiner Finger; aber die Wucht der Kugel hat den dahinterliegenden Sandsack komplett aufgerissen — aus allen Seiten rieselt roter Sand. Für diese Durchschlagskraft nimmt er die Prellungen an der Schulter gerne in Kauf, das kann bald den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen. Des Jägers, nicht der Beute. Dass heutzutage so viele Jäger kleinere Kaliber bevorzugen, hat er nie verstanden, er würde sich mit einer leichteren Waffe im Busch nicht sicher fühlen. Leichtere Munition erfordert einen perfekt platzierten Schuss, und auf schwierigem Terrain hat ein Jäger nicht den Luxus, den richtigen Winkel zu wählen — wenn unerwartet ein wildes Tier angreift, kann man froh sein, wenn man es überhaupt trifft. Außerdem tötet eine leichte Waffe die Beute zwar, aber stoppt sie nicht sofort, und Hunter will nicht von einem »toten« Tier zertrampelt werden, das noch ein paar Meter weiterrennt, bis es zusammenbricht. Deshalb zählt er bei der Großwildjagd auf seine alte Doppelbüchse.577 Nitro Express — das gleiche Gewehr, mit dem Hemingway damals hier in Afrika ein Nashorn und ein paar Löwen geschossen hat — und nicht auf ein leichteres, moderneres Modell. Aber das hat er heute Morgen nicht erzählt, als er beim Ausklarieren seiner Waffe ein Schwätzchen mit den Flughafenpolizisten hielt. Auf die Frage, warum er mit einem so schweren Kaliber jage, hat er einfach geantwortet, das Gewehr habe seinem Großvater gehört, was stimmt, und dann noch etwas über Männlichkeit hinzugefügt, was mit beifälligem Gelächter goutiert wurde. Schlafende Hunde soll man nicht wecken, vor allem nicht in einem Land wie diesem, wo die Anzahl der Schulterstreifen an der Uniform den Grad der Korruption kennzeichnet. Je weniger Menschen von seinen wirklichen Absichten wissen, desto besser. Liebevoll klappt er seine Doppelbüchse auf und hängt sie sich gebrochen über den Arm. Van Heeren klopft ihm freundschaftlich auf die Schulter.

»Meiner Meinung nach hast du dir einen Drink verdient.«

Vom allgegenwärtigen Zirpen der Grillen begleitet gehen sie zusammen an den niedrigen Bungalows vorbei zur Lodge. Hunter holt ein paarmal tief Luft; trotz des Nachtflugs und der drückenden Hitze fühlt sich sein Körper frisch und fit an. Bereit für die Jagd. Sein Verstand ist entspannt und ruhig, aber aufmerksamer als zu Hause, seine Ohren sind gespitzt, er registriert die unbekannten Gerüche, nimmt den vagen Metallgeschmack in der Luft wahr. Ist da ein Gewitter im Anmarsch? Neben seinem Bungalow bleibt er stehen.

»Ich komme gleich. Muss erst noch den Kollegen hier wegpacken und ein frisches Hemd anziehen.«

Hunter schiebt das Fenster hoch, legt seine Waffe in den offenen Gewehrkoffer auf dem Bett, zieht das verschwitzte Hemd aus und hängt es über die Stuhllehne. Wider besseres Wissen setzt er sich auf den Bettrand. Sofort schlägt der Jetlag gnadenlos zu: Sein Körper will sich unbedingt hinlegen und die verpasste Nacht nachholen. Sich aufs Ohr hauen, nur ganz kurz, das ist doch in Ordnung, oder? Doch sobald er sich auf dem Bett ausstreckt, merkt er, dass er eine Dummheit begeht — wenn er jetzt die Augen schließt, ist er verloren. Dann wird er einschlafen und mitten in der Nacht wach werden und stundenlang schlaflos auf den Morgen warten. Und dieses Muster würde sich die nächsten Tage wiederholen, bis er vollkommen fertig wäre. Dabei liegt das Geheimnis genau darin, sich sofort dem Rhythmus des neuen Tages anzupassen. Im letzten Moment zwingt er sich dazu, die Augen offen zu lassen, und tastet in der Hosentasche nach seinem Handy. Er gibt einen Namen ein und wartet; über ihm, an der Decke, dreht der schwere Holzventilator seine Runden. Elfmal klingelt das Telefon, bis jemand abnimmt. Die Frauenstimme am anderen Ende der Leitung klingt warm und schläfrig, aber nicht vorwurfsvoll.

»Hallo.«

»Ich habe dich geweckt.«

»Wundert dich das, mitten in der Nacht?«

»Wo bist du?«

Das Geräusch von Stoff, der über Stoff gleitet. Eine Decke, die zurückgeschlagen wird. In Gedanken sieht er vor sich, wie sie sich am Bettrand aufsetzt, noch nicht ganz wach, das Gesicht sanfter als bei Tageslicht. Obwohl es ihm damals ihre Strenge angetan hat, ist es ihr nächtliches Ich, das ihn berührt.

»Mexiko.«

»So so. Arbeit oder Vergnügen?«

»Nicht jeder trennt die Dinge so streng voneinander wie du.«

Hunter lacht. Vor dem inneren Auge sieht er sein Büro. Das Meer aus Computerbildschirmen, die Hemdrücken der Männer, die dort arbeiten, genauso austauschbar wie die Displays, auf die sie starren. Er muss ihre Gesichter nicht sehen, um zu wissen, wer Gewinn macht und wer Verlust, die Spannung ihrer Schulterblätter spricht Bände. Draußen, hinter dem Fensterglas, dutzende in den Himmel ragende Türme. Eine vollkommen vertikale Skyline. Ein größerer Kontrast zur Weite, die ihn jetzt umgibt, ist kaum vorstellbar; hier kann er kilometerweit schauen, ohne dass etwas seinen Blick abfängt. Er richtet sich halb auf, stützt sich auf die Ellenbogen und lässt seinen Blick über die Landschaft schweifen: nirgendwo auch nur die Spur menschlichen Lebens.

»Bist du allein?«

Seine Frau antwortet nicht sofort, also ist wohl das Gegenteil der Fall. Warum sollte sie sonst aufstehen, um mit ihm zu telefonieren? Er hört das Rascheln von Stoff, wahrscheinlich schiebt sie das Moskitonetz beiseite, danach das Geräusch ihrer nackten Füße auf einem Holzboden. Dann wieder ihre Stimme, jetzt weniger gedämpft.

»Wärst du eifersüchtig, wenn es nicht so ist?«

Jetzt ist sie wach. Der sanfte Ausdruck in ihrem Gesicht ist verschwunden, und über die halbe Welt hinweg spürt er, wie sie ihn herausfordernd ansieht.

»Nein.«

»Nein?«

»Eifersucht ist ein Zeichen von Schwäche. Das würde implizieren, dass ich mich bedroht fühle.«

Löwen fallen nicht alle Männchen eines Rudels an. Nur Jungtiere, die ihren Platz noch nicht kennen, bekommen einen Hieb ab. Eine energiesparende und effiziente Art des Zusammenlebens.

Jetzt muss sie lachen.

»In Ordnung.«

Sie hat sich ein Glas Wasser eingeschenkt, er hört sie trinken.Mit großen Schlucken. Sieht ihre feuchten Lippen. Plötzlich sehnt er sich nach ihr, mit einer Vehemenz, die ihn überrascht.

»Kommst du für unseren Hochzeitstag nach Hause?«, fragt er sie.

»Welches Zuhause?«

»Das Haus. Unser Zuhause.«

»Kannst du nicht nach Mexiko kommen? Hier ist das Wetter viel schöner.«

»Eher nicht. Ich habe ein Geschenk für dich.«

»Und?«

»Kann man nicht gerade als Handgepäck bezeichnen.«

Er hört, wie sie einatmet. Scharf. Angespannt.

»Ist es das, wovon ich denke, dass es das ist?«

Als die nächste Frage sofort aus ihr herausplatzt, weiß er, dass sie keine Antwort erwartet hat.

»Wie lange planst du das schon?«

»Seit zwei Jahren.«

Das leichte Rauschen in der Leitung zeugt von ihrer Wertschätzung. Dann, als die Bedeutung seiner Worte ganz zu ihr durchgedrungen ist, spürt er ihr Zittern. Ein kurzes Erschaudern, nackte Haut an der geschmeidigen Seide des Pyjamas.

...