: Robert Neumann
: Die Kinder von Wien Roman
: Jung und Jung Verlag
: 9783990273012
: 1
: CHF 17.20
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 224
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
'Wien nach Ende des Weltkriegs: Während die Stadt in Schutt und Asche liegt, findet sich eine Gruppe von Kindern, die allein mit den Folgen und Schrecken der Gewaltherrschaft fertig werden müssen, im Keller eines ausgebombten Hauses zusammen. Die Wege, die sie in den Untergrund geführt haben, könnten unterschiedlicher nicht sein: Jid hat das KZ überlebt, Goy ist aus einem Kinderverschickungslage zurückgekehrt, während Ate vor nicht langer Zeit noch BDM-Führerin war. Die Not lässt sie Seite an Seite hoffen, lässt sie hungern und leiden, aber auch Pläne schmieden. Robert Neumann hat seiner Heimat, aus der er mehr als ein Jahrzehnt zuvor nach England geflohen war, in Children of Vienna (1946) ein erschütterndes Denkmal gesetzt. Als der Roman 1948 erstmals auf Deutsch erschien, reagierte die Kritik mit Ratlosigkeit. Manchen galt Neumann als 'Nestbeschmutzer', ein Vorwurf, der später auch andere Autor:innen von Rang treffen sollte. Ein Jahr vor seinem Freitod 1975 hat Neumann Die Kinder von Wien in einer faszinierenden Kunstsprache selbst ins Deutsche übertragen. Mit diesem Roman ist eine eigensinnige, widerborstige, eine wichtige Stimme der österreichischen Literatur nach 1945 neu zu entdecken! '

geboren 1897 in Wien, gestorben 1975 in München. Neumann feierte mit seinen legendären Parodien erste literarische Erfolge. 1934 emigrierte er nach Großbritannien, wo er als einer von wenigen Exilautoren publizistisch Fuß fassen konnte. Zeitlebens engagierte er sich neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit als streitbarer Publizist.

I


Ein feiner Platz! Die Augen angepaßt an das Zwitterlicht, schaut er nicht aus wie ein Keller. Wahrscheinlich hat man gestützt, damit man heruntergehn kann in einem Luftalarm, Gasalarm oder was weiß ich. Das ist warum es nicht alles zusammengequetscht hat, wie das Haus daraufgestürzt ist. Komisch, ein ganzes Haus fällt herunter auf das eigene Kellergewölb, und nicht ein Loch, nicht ein Riß. Der wirkliche Eingang ist natürlich geblockt, Mauertrümmer mit gesplitterten Balken, die ganzen Stufen herauf zur Straße verschüttet. Nur Licht kann durch dazwischen. Und Luft. Heißt aber nicht, einer geht vorüber und bleibt stehn und schaut. Man geht weiter, man denkt: Getrümmert. Aus.

Nicht zu glauben, was alles vorübergeht, Tag und Nacht. Es war früher nicht eine Hauptgasse. Erst nachdem die richtige Hauptgasse geblockt war von dem Volltreffer, haben sie begonnen und gehn da vorbei. Schaut man herauf von unten, was sieht man? Füße gehen nach Westen, Füße gehen nach Osten. Sandalen, Schuh, neue Militärstiefel, oder alte Stiefel, oder ganz alte Stiefel die auseinanderfallen, wenn man sie nicht zubindet mit einem Strick. Ein paar Räder dazwischen, Schiebkarren Ziehkarren Kinderwagen, was der Ami dazu sagt es heißt a Pram.

Das Geräusch dazu. Straßenlärm – aber nicht einmal ein richtiger Straßenlärm. Prams und Handwagen, anderes fährt nicht. Kein Geschrei kein Gered, alles hat sich längst ausgeschrien und ausgeredt. Nur das Geräusch wie man geht. Ein Geräusch – man hat aus ihm die Innereien herausgenommen, so hohl ist es. Von unten, vom Keller, wundert es einen: es klingt die ganze Zeit verschieden und klingt doch dasselbe die ganze Zeit.

Höher herauf, so hoch wie ein Dachbodenfenster vielleicht von dem Haus das nicht mehr da ist, könnte man die Sofienkirche gesehen haben – wie weit? Zwei Revolverschuß weit, drei Revolverschuß, nicht mehr. Das steile Kirchendach eingedrückt. Ein Mann mit der Drehorgel irgendwo in einer von den kleinen Gassen, man sieht ihn nicht, man hört nur die Musik. Wie – einst – Lilimarleen.

Der Eingang geblockt, aber um die Ecke sind zwei Fenster gegen was früher der Hinterhof gewesen ist. Das eine Fenster ist weg, mit Brettern darüber genagelt, aber so schlau, daß man nur wissen muß wie, dann kann man dort heraus-herein über Balken und Kisten zum Klettern hingelegt. Das andere Fenster ist ganz. Ein richtiges Fenster mit richtig Glas und vor ihm ein Eisengitter. Schaut man es an, kommt einem vor es ist Frieden, so total ganz wie das Fenster ist. Schaut man von unten herauf, war dort früher der Hinterhof. Dort liegen Trümmer. Mit Schnee drauf. Schaut man von dort oben hinunter, müssen erst die Augen sich angewöhnen bevor man sieht, was für ein feiner Platz dort unten der Keller ist.

Die zwei Männer oben stehen nicht vor dem Fenster, sie stehen vorn auf der Straße, wo der geblockte Eingang ist. Von unten sieht man von den beiden nur die untere Hälfte, mit vielen Menschen dahinter hin und her. Die Schuh von den zwein sind so man schmeißt sie am besten weg und handelt bessere wenn man etwas zum Handeln hat. Komplette zwei Minuten schreien die zwei, erst jetzt stoppen sie.

»Was is los«, sagt Jid leise ganz hinten in dem Keller. Er ist ein Jiddisch Kind mit einem langen deutschen jiddischen Namen, erster Name zweiter Name alles komplett, man kann es nicht gebrauchen, es ist zu lang. »Was is los? Was wollen sie?«

Er ist dreizehn, klein wie zehn, mit Augen ungeglänzt wie ein Mann von fünfunddreißg oder fünfundfuffzg. Dazu prima angezogen mit einer pelzgefütterten Kraftfahrerjacke, die aber um ihn herumhängt wie ein Schlafrock, so groß ist sie. Von den Ärmeln hat er ein Stück geschnitten, damit er frei ist mit den Händen. Seine Hände sind lang mit dünnen Fingern immer in Bewegung, man glaubt Krabben Spinnen Schlangen was weiß ich, so bewegliche Hände hat der. Sagt er: »Ich bin in meinem Zimmer gewesen, darum hab ich nicht gleich gehört. Was is los?«

Der Junge zu dem er spricht ist sieben, oder ist neun, oder er ist sechs. Mit blonden Krausen oder Curls oder wie sagt man, blonde Locken mein Ehrenwort daß man lachen muß, es ist wie ein Mädel. Er ist eingewickelt in eine Decke. Pferdedecke. Es schaut aus, es ist ihm warm. Darum vielleicht hat er sich nicht bewegen wollen. Sitzt hinten im Keller auf der Bank ganz hingewickelt und raucht einen Tschik, eine Zigarett. Dort ist er gesessen vielleicht schon die ganze Zeit.

»Was is los? Nix is los«, sagt er schläferig. »Nur ein Geschrei.« Schaut herunter auf das Handwagel neben sich. »Ich hab schon geglaubt sie wecken das Kindl auf.«

»Mit was hast du sie zugedeckt? Mit Papier?«

»Das is die Zeitung von voriger Woche«, sagt Curls. »Begräbnisspielen.« Hebt das Blatt auf, liegt darunter ein Girl so winzigklein, mit einem Gesicht so groß man glaubt der Mond.

Sagt Jid: »Sie schläft nicht.« Ihre Augen sind weit offen.

»Nein!« – Curls deckt sie wieder zu mit der Zeitung. »Sie will das so. Ist warm. Begräbnisspielen.«

Jid: »Sie hat die Augen offen.«

Die zwei Männer draußen, in dem Moment fangen sie wieder an und schrein.

Curls: »Laß sie schrein. Das ist der Mann vom Bezirksrat.«

Gibt Jid einen leisen Lacher.

Die Füße oben von den Männern, weg sind sie. Dann sieht man sie auf der anderen Seite im Hof, dort steigen sie über die Trümmer.

»Suchen das Fenster.«

»Ja«, sagt Curls, schläfrig. Bewegt sich nicht, gewickelt in die Decke.

Jid: »Goy, wenn er zurück sein würde vom Markt, würde er ihnen zeigen. Aber den Panzerknacker hätt er abliefern sollen. Feuerwaffen geben sie eine Woche Zeit daß man abliefert. Zu spät jetzt.«

»Ja.«

»Aber hängen tun sie nicht. Nicht mehr. Kinder nicht. Und Goy kann nicht lesen, also kann er sich verteidigen er hat nicht gewußt. Aber für die zwei dort draußen genügt seine Fäuste. Den Panzerknacker schmeißt er am besten in den Fluß.«

»Oder tauscht«, sagt Curls, schläfrig.

»Kann er nicht. Panzerknacker kann man nicht tauschen. Außer bei Polen. Was geben die Polen für Panzerknacker, wenn einer ein Junge ist? Wenn du ein Mädel bist – ja. Aber dann brauchst du keinen Panzerknacker.«

»Ja.«

»Goy, für ihn möcht ein Rasiermesser richtig sein.«

Mit den Fingern spielt Jid ein Rasiermesser aus der Tasche. Läßt es hochsegeln in die Luft. Fängt es. Läßt es segeln, links. In der Luft macht es sich auf, wie eine Schwalbe so elegant. Fängt er es, elegant. Ist es schon wieder verschwunden.

Curls: »Wo ist es?«

»In deiner Tasche.«

Curls schaut nach, da ist es. Lacht er langsam. »Jetzt in mein Ärmel.«

»Das is nix. Is das Kindl gut zugedeckt? Bin ich nah gekommen? Nein? Gut. Dann schau nach unter seinem Arsch.«

Curls nimmt die Zeitung weg. »Großartig.« Lacht ein bissel, holt das Rasier heraus.

Das Kindl schaut sie an, mit großen Augen ohne Glitzer. »Na, na«, sagt Jid. »Macht dir Spaß? Macht dir Spaß man spielt ein bissel? Na? Macht dir Spaß man gibt dir ein bissel kaltes Wasser?«

»Tschik«, sagt das Kindl ernst. Mit weiten Augen, was sich nicht rühren.

»Ist schlecht für dein Alter.« Jid hält seine Zigarett an ihren Mund. »Zieh«, sagt er. »Da. Kann nicht einmal ziehn.«

Curls, mit dem Rasiermesser: »Da ist ein Hakenkreuz aufm Griff.«

Jid: »Erst sagt sie, sie will rauchen, dann zieht sie nicht. Schau wie sie schaut auf uns. Sie is beinah schon weg.«

»Nein. Sie hat nur gern, wenn sie still liegt. Hast gern man spielt mit dir Leichenbegängnis, was? Da ist ein Hakenkreuz am Griff, schau.«

Jid: »Das Messer hab ich einem SS-Mann aus der Tasche und er hat nicht gemerkt. Auch seine Uhr – hat er nicht gemerkt.« Das Rasiermesser ist weg, er zieht es aus seinem Schuh, mit zwei Fingern, elegant. »Ich kann alles ziehen aus alle Taschen.« Beugt sich über das Kindl. »Magst rauchen? Nein? Sie ist beinah schon weg, schau dir an ihren Bauch. Das weiß ich vom Lager. Man kann sterben von Schrumpfbauch oder man kann sterben von Ballonbauch.«

»Oder man kann sterben von Flecken.«

Jid: »Es gibt fünf verschiedene Arten Flecken. Was weißt du? Nix.«

»Sie hat keine Flecken.«

»Sie hat einen Ballon. Willst du ein bissel kaltes Wasser? Da. Will nicht. Ballons wollen nie Wasser.«

Curls sagt:...