»Niemals wieder Krieg und Krankheit.«
Leitsatz der Freien Städte
1: Aufbruch
Reise von Neu-Babel in die Freien Städte, 2306.
Nele blickte aus dem Fenster der Zeppelinkabine. Neu-Babel war nicht mehr zu erkennen, die Felsspitzen des Grüngebirges hatten die Zwei-Säulen-Stadt verschlungen. Gut so. Wie sehr hatte sie an diesem Ort gelitten. Zuerst auf der Westplattform, in Lumpenbabel, wo sie ihre Würde und ihre Familie verloren und sich eine tödliche Krankheit eingefangen hatte. Anschließend auf der Ostplattform, in Prachtbabel – dem Ort der Wunder und Reichtümer, an den sie immer gewollt hatte.
Sie verzog den Mund.Ja, sehr prachtvoll! Eine Stadt der Verschwendung, voller Lügner und Perverser.
Doch nun musste sie das, was sie dort erlebt hatte, hinter sich lassen, wenn sie nicht daran zerbrechen wollte. Wenigstens, bis sie ihr Heilmittel hatte und es ihr besser ging. Ihr altes Ich gehörte der Vergangenheit an, sie war jetzt eine Frau, die wusste, wie man sich wehrte, das allein zählte.
Seit sie das zu Beginn des Fluges auch ihrem verhassten Sitznachbarn klargemacht hatte, war der geradezu verstummt. Ein Blick zur Seite verriet ihr, dass es wohl vorerst so bleiben würde. Palef sah angespannt aus, zupfte mal an seinem Zopf, mal an seiner bunten Kleidung, und presste die Lippen aufeinander. Zu hören waren vor allem die anderen Fluggäste. Dekadente Prachtbabeler in schrill gefärbter Kleidung, die sich in den weichen Sitzen rekelten, von einer Bediensteten Wein und Häppchen servieren ließen und dabei laut mit ihren Besitztümern prahlten.
Nele ignorierte sie. Zwischen ihren Füßen stand die Eintrittskarte in ihr neues Leben: eine Tasche voller Münzbeutel und Schmuck, die sie von ihrem Prachtbabeler Peiniger mitgenommen hatte, an den Palef sie am Morgen verkauft hatte wie ein Stück Vieh, anstatt dafür zu sorgen, dass sie in den Zeppelin kam.
Wieder zuckten die Bilder und Gefühle wie Blitze am Gewitterhimmel durch ihr Bewusstsein: Das riesige Haus ihres Peinigers, der düstere Raum mit den verwirrenden Farben und dem unangenehmen Geruch, sie selbst darin, angebunden, hilflos.»Bitte, Palef, bitte. Was ist mit Jesus und der Nächstenliebe?« Palef, wie er die Bezahlung nahm.»Lass mich nicht mit ihm allein!« Palef, wie er sich umdrehte und ging.»NEIN, PALEF! BITTE! PALEF!« Der perverse Mann, wie er vor sie trat und sie anstierte.
Sie presste die Hände auf die Augen.Weg! Weg damit! Das soll endlich aufhören!
Sie riss die Hände wieder herunter und bemerkte, dass Palef sie mit irritiertem Blick von der Seite ansah. Hasserfüllt starrte sie zurück, bis er den Kopf abwandte. Sie ballte die Fäuste im Schoß, warf dieses Schwein in Gedanken aus dem Zeppelin. Sie würde seinen Fall in die Tiefe beobachten und es genießen, wie er auf den Felsen aufschlug.
Ja, eine schöne Vorstellung, aber … was ist nur aus mir geworden? Das will ich nicht, so nicht. Ich will nach vorn schauen.
Mit kalten Fingern tastete sie nach der kostbaren Kette um ihren Hals. Sie besaß nun Dinge, die sich nur eine Superiatin leisten konnte – eine Angehörige jener skrupellosen Ultrareichen, die in Neu-Babel das Sagen hatten. Die Kette gehörte zu Neles Tarnung, genau wie das bunte Kleid und die Schläfentätowierung der Superiaten, die bei ihr jedoch nur aufgemalt war. Das Schultertuch und die Goldbrosche dienten trotz ihres hohen Wertes allerdings vor allem dem Zweck, einen Riss am Ausschnitt des Kleides zu bedecken und zusammenzuhalten. Der feine Stoff hielt eben nichts aus, wohl deshalb, weil er nur zum Schönsein gedacht war. Hingegen hatte ihr Minilenser, das kleine Lämpchen, das man ans Ohr klemmen konnte, bisher alles ausgehalten und ihr immer gute Dienste geleistet, während sie des Nachts in Lumpenbabel ihren kläglichen Lebensunterhalt verdiente. In seinem Schein hatte sie Insekten und anderes Getier aufgespürt, eingesammelt und anschließend an Garküchen verkauft. Er lagerte in der Tasche zwischen den Münzbeuteln, und das war gut so, denn er war neben dem Messer, dass sie am Körper trug, das Einzige, was sie an ihr altes Leben erinnerte.
Sie bewegte sich im bequemen Polstersitz und zuckte vor Schmerz. Es brannte an ihrem Rücken, als hätte sie mit bloßer Haut eine raue Mauer gestreift. Diese verdammte Krankheit – dieser verdammte Verfall.
Palef beugte sich nun doch zu ihr. »Wird es schlimmer?«, raunte er ihr zu. In seiner Stimme schien Besorgnis mitzuschwingen.Heuchler.
»Ist nichts weiter