KAPITEL 1
Die Dunkelheit ist nicht das größte Problem. Mit ihr habe ich gerechnet. Das Problem sind die Wellen.
Seit ich die Küstenzone verlassen habe, seit die östliche Kanalströmung mich in sich aufgenommen hat und wie einen kleinen unbeleuchteten Satelliten langsam in Richtung Westen trägt, sind die Wellen unerwartet stark. Sie kommen von links, von rechts, von hinten. Manchmal aus allen Richtungen zugleich. Ich spüre, wie sie mich von unten hochheben, meinen Körper aus der Horizontalen hebeln und mich schräg nach vorne aus der Bahn werfen, mal zur einen Seite, mal zur anderen.
Korrigieren, denke ich zwischen zwei Atemzügen. Ich muss viel zu oft meine Richtung korrigieren.
Zum millionsten Mal drehe ich den Kopf unter der Achsel aus dem Wasser und inhaliere Luft – da schlägt eine Welle quer über mein Gesicht. Salzgeschmack tief im Rachen. Ich huste und spucke, ziehe krampfhaft Luft in meine Kehle und drehe mich für ein paar Sekunden auf den Rücken, um meinen Sauerstoffhaushalt zu regulieren.
So hatte ich das nicht geplant.
Über mir spannt sich ein schwarzer, sternenloser Himmel. Vom Festland ist nichts zu sehen. Hinter einem Wellenkamm blitzt das Topplicht am Mast derSea Satin auf, des Fischerbootes, das mich begleitet. Joshua, Papa und Captain Mike müssen dort irgendwo stehen und in die Schwärze hinter der Reling starren. Ich sehe ihre angespannten Gesichter förmlich vor mir.
Aber hier im Wasser bin ich alleine.
Wieder hole ich Luft, schließe die Lippen und rotiere meinen Körper zurück auf den Bauch.
Unter mir gähnt die schwarze Unendlichkeit. Ein kaltes, gleichgültiges Universum, durch das sich Arme und Beine seit etwa drei Stunden einen Weg pflügen. Meine Arme scheinen in der Dunkelheit bei jedem Schlag unter Wasser, als wären sie aus Wachs.
Um mich zu sammeln, gehe ich in Gedanken meinen Körper durch, von den Füßen bis zum Kopf. Meine Zehen sind taub vor Kälte, so weit alles normal. Meine Beine schlagen im gewohnten Rhythmus, sind aber erschöpfter, als sie sein sollten. Das Gleiche mit Rumpf und Rücken. Die ständige Reaktion auf die Wellen kostet Kraft, die mein Körper zum Vorwärtskommen bräuchte. Und mir ist übel.
Ich versuche, mich auf etwas anderes zu konzentrieren. Ablenkung. Ja, Ablenkung ist gut. Zum Beispiel Schmerzen. Habe ich welche? Ein paar Züge lang scanne ich die Signale, die meine Nervenenden an mein Gehirn senden. Da: im Nacken, in den Achseln, zwischen den Beinen. Wo seit Stunden Haut über Haut scheuert, brennt es. Die Vaseline ist längst abgewaschen.
Das Salzwasser nagt an mir.
Links, rechts, links. Atmen. Den Rhythmus kennt mein Körper im Schlaf. Rechts, links, rechts. Atmen.
Im Wasser bin ich auf Autopilot. Ich habe ihn in Millionen Zügen programmiert, seit ich ein Kind war. In zehntausend Stunden im Becken zu Hause in Marburg, auf Wettbewerben und internationalen Meisterschaften. Aber jetzt, um vier Uhr morgens im eiskalten Wasser, kommt mir eine grässliche Erkenntnis.
Für den Ärmelkanal ist das alles so gut wie nutzlos.
Im Becken gibt es keine Wellen. Keine unerwarteten Brecher, die dich von hinten treffen und dir beim Luftholen die Kehle volllaufen lassen. Im Becken wirst du nicht seekrank, auch nach sechs Stunden nicht. Im offenen Wasser aber gelten Regeln, die ich bisher noch nicht kenne.
Eine davon habe ich inzwischen verstanden: Mein Kopf ist das Problem. Ich halte ihn zu tief. Er müsste beim Luftholen viel weiter durch die Wasseroberfläche brechen, wie ein Schnorchel. Ich überlege fieberhaft, wie viel Kraft es mich kosten würde, die 32 Kilometer bis zur französischen Küste mit einer anderen Technik zu schwimmen. Da hebt