Vorwort
Frau Knöll und ich stehen im Zwischengeschoss einer belebten Haltestelle. Sechs U–Bahnlinien, fünf Straßenbahnen und zwei Buslinien treffen hier aufeinander. Über 100 000 Fahrgäste steigen pro Tag ein, aus oder um. Frau Knöll hält in ihrer Hand einen Einhandzähler, ein kleines metallenes Gerät mit Ziffernblatt, dessen Anzeige man per Daumenklick um eine Zahl erhöhen kann. Bei Veranstaltungen kann Security-Personal mit solchen Geräten zum Beispiel den Überblick darüber behalten, wie viele Gäste bereits den Saal betreten haben.
Frau Knöll ist mittleren Alters und wird immer wieder von einer diffusen, gedrückten Stimmung heimgesucht. Als sie sich vor drei Monaten an mich gewendet hat, berichtete sie mir, dass sich ihr Zustand über die Jahre eher verschlechtert habe. Sie stecke häufiger und länger in diesen schlechten Phasen und wolle etwas dagegen unternehmen.
Wir stehen im Zwischengeschoss, um eine ihrer mittlerweile fest verankerten Annahmen zu überprüfen. Sie meint, die meisten Menschen seien heutzutage rücksichtslos und würden nur auf sich selbst achten. Wer in dieser Gesellschaft sensibel sei, habe keine Chance. Frau Knöll hat viele solcher Grundannahmen über sich und andere, die ihr Erleben und Verhalten prägen. Ich werde sie mit dieser Intervention nicht vom Gegenteil überzeugen, aber vielleicht setzen wir einen ersten Impuls. Denn immer, wenn mein Glauben an die Menschheit schwindet, mache ich die Übung auch selbst im Geiste: Frau Knöll soll jedes Mal, wenn sie jemanden beobachtet, dera sich rücksichtsvoll verhält, den Klicker in ihrer linken Hand betätigen.
Zunächst scheint sie solche Menschen nicht zu bemerken – auch das ist eine Folge ihrer Grundannahmen und ihres aktuellen Befindens, eine Art Symptom. Ich erinnere sie noch einmal an unsere Aufgabe und lenke ihre Aufmerksamkeit auf die vielen Leute, die anderen den Vortritt auf der Rolltreppe lassen. Menschen, die Platz für andere beim Aussteigen machen und geduldig abwarten oder eine Tür aufhalten. Sie klickt los: 1, 2, 3, 4. Jemand rennt einer Person hinterher, um ihr den aus der Tasche gefallenen Schal zu bringen. Klick. Eine junge Frau hilft einem älteren Herrn dabei, sein Fahrrad auf der Rolltreppe zu stabilisieren. Klick. Jemand geht unaufgefordert auf zwei orientierungslos wirkende Reisende zu und bietet Hilfe an. Klick. Nach dreißig Minuten klickt der Einhandzähler in ihrer linken Hand zum 44. Mal. Halbzeit und Handwechsel. Mit dem Klicker in der rechten Hand soll Frau Knöll nun alle negativen Verhaltensweisen zählen. Rücksichtslose Menschen, unhöfliches Verhalten und gefährliche Situationen, die durch Nachlässigkeit entstehen. Sie betätigt den Klicker zum Beispiel, als ein Jugendlicher noch in die U–Bahn hechtet, während die Türen sich schon schließen und die Weiterfahrt dadurch verzögert.
Ich hatte Frau Knöll in der ausgiebigen Vorbesprechung der Übung unter anderem gebeten, eine Schätzung abzugeben. Wie wird das Verhältnis der positiven und negativen Beobachtungen am Ende sein? Mindestens ausgeglichen, meinte sie. So wie sie diese U–Bahnstation kenne, wahrscheinlich deutlich negativer.
Nach einer Stunde stellen wir die Zahlen gegenüber: in der linken Hand stehen 44 Klicks. In der rechten sind es sechs. Frau Knöll fängt an zu weinen.
Dabei sind die Zahlen nicht überraschend. Das ist nicht nur meine persönliche Erfahrung, es gibt sogar einen tragischen, wissenschaftlichen Beleg dafür, dass fremde Menschen selbst unter furchtbaren Umständen sehr viel besser zueinander sind, als Frau Knöll vermutet. 2005 gab es eine Serie von Terroranschlägen in London, Selbstmordattentäter zündeten insgesamt vier Bomben in U-Bahnen und einem Bus. 52 Menschen starben, viele hunderte weitere wurden verletzt. Eine Forschungsgruppe der University of Sussex analysierte, wie sich die verunsicherte Londoner Bevölkerung verhielt.1 Die Wissenschaftler werteten über zweihundert Berichte aus unterschiedlichen Quellen über das Verhalten in den U-Bahnschächten direkt nach den Anschlägen aus. Sie analysierten Aussagen Betroffener aus Zeitungsberichten, lasen Zeugenaussagen, die direkt im Anschluss an die Katastrophe gemacht wurden und führten selbst ausführliche Interviews. Sie kamen zu einem eindeutigen Ergebnis:
Nur achtzehn Menschen berichteten von annähernd egoistischem Verhalten. Die Zahl i