1. Friede mit den Tätern (1945–1952)1
Das große Verdrängen
»Ob das Mittel, die Juden zu vergasen, das gegebene gewesen ist, darüber kann man geteilter Meinung sein. Vielleicht hätte es auch andere Wege gegeben, sich ihrer zu entledigen«2, erklärte der Bundestagsabgeordnete Wolfgang Hedler (DP) bei einer Rede im November 1949. »Ich persönlich bezweifle, dass die Vergasung das Richtige war«, fügte er lächelnd hinzu, was bei seinen Zuhörern im Gasthof Deutsches Haus bei Neumünster für allgemeine Heiterkeit sorgte.3
Die Bundesrepublik Deutschland war damals noch nicht einmal ein halbes Jahr alt. Kanzler Konrad Adenauer (CDU) hatte eine Große Koalition mit der SPD abgelehnt und regierte stattdessen zusammen mit der FDP und der DP – der Deutschen Partei. Dass in beiden Fraktionen4 ehemalige Nationalsozialisten saßen, tat der Regierungsarbeit keinen Abbruch. Im Gegenteil: Bei einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung stießen rechtsnationale Ansichten damals nach wie vor auf Zustimmung: Allein 10 der 17 DP-Abgeordneten waren per Direktmandat in den Bundestag gewählt worden. Und mit Hans Globke hatte sich Adenauer sogar höchstpersönlich einen Mann als engsten Mitarbeiter ins Kanzleramt geholt, der maßgeblich an der Kommentierung der Nürnberger Rassegesetze beteiligt gewesen war – eine weitere Voraussetzung für die Entrechtung, Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden. Die Verordnung, wonach jüdische Deutsche zur besseren Kenntlichmachung ab August 1938 die Vornamen Sara und Abraham führen mussten, entstammte ebenfalls Globkes Feder.5
Deutschland treffe »die geringste Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs«, tönte Hedler an jenem Novembertag, vier Jahre nach Kriegsende. »Schuld an unserem Elend tragen die Widerstandskämpfer.« An ihrem »Verrat« sei Deutschland zugrunde gegangen.6 Mit dieser Ansicht stand Hedler nicht allein da. Viele Deutsche sahen in den Akteuren des 20. Juli 1944 noch immer Verräter und machten sie mitverantwortlich für den verlorenen Krieg. Es war die zweite Dolchstoßlegende der deutschen Geschichte, und sie sollte sich noch bis weit in die 70er-Jahre halten.7
Im Januar 1950 musste sich Hedler für seine Äußerungen vor dem Landgericht Kiel verantworten. Die Staatsanwaltschaft legte ihm zur Last, das Andenken der Widerstandskämpfer mit Verleumdungen verunglimpft und »Angehörige der jüdischen Rasse« (sic!) beleidigt zu haben und forderte zehn Monate Haft. Die Liste der Nebenkläger las sich wie eine Aufzählung der größten Namen im deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus: Neben Überlebenden wie Gustav Dahrendorf und Hans Gisevius waren unter anderem die Angehörigen von Carl Goerdeler, Ernst von Harnack, Julius Leber, Henning von Tresckow, Adolf Reichwein, Friedrich Olbricht dabei.
Nach acht Verhandlungstagen sprachen die drei Richter, zwei davon ehemalige NSDAP-Parteigenossen, Hedler in allen Anklagepunkten frei. Eine jubelnde Menschenmenge erwartete den 50-Jährigen vor der Tür und geleitete ihn zu einer Gaststätte, wo er anschließend mit Parteikollegen und Gleichgesinnten seinen Sieg feierte.8 Der Freispruch war für Hedler auch deswegen ein Triumph, weil die Deutsche Partei ihn zuvor aus Angst um die Fortsetzung der Regierungsbeteiligung aus der Partei ausgeschlossen hatte. Ab sofort konnte es als juristisch legitimiert gelten, die Widerstandskämpfer des Verrats zu bezichtigen. Selbst unverhohlener Judenhass blieb ungesühnt.9
Die Empörung über das Urteil war groß, auch im Ausland. Jüdische Gemeinden äußerten ihr Entsetzen, Gewerkschafter versammelten sich zu Protestkundgebungen. In manchen Betrieben wurde gestreikt, etliche Ortsvereine der SPD forderten die Entlassung der Richter und eine Stellungnahme der Bundesregierung, weil das Urteil eine »nachträgliche Anerkennung der Verbrechen des Dritten Reiches« bedeute.10 Ein Großteil der Presse sah es ähnlich. Zugleich aber schlich sich eine Argumentationslinie in die vergangenheitspolitische Debatte, die für die nächsten Jahre typisch bleiben sollte: Man laufe Gefahr, im Eifer des Kampfes gegen den Nationalsozialismus »wieder mitten im Nationalsozialismus« zu landen, warnte etwa