Kapitel 1
Marseille, Anfang Oktober 1891
Im Bistro roch es wie immer, dachte Fabienne, als sie zögerlich die Tür aufstieß. Nach Fasswein und geschmolzenem Käse, nach Zigarettenrauch und verschüttetem Armagnac. Von der Bäckerei nebenan kam der Duft von frisch gebackenem Brot dazu.
Verspürte sie Freude darüber, wieder hier zu sein?, fragte sich Fabienne. Wehmut? Oder überwog das Bauchgrummeln angesichts der nahenden Konfrontation? Noch bevor sie länger über diese Frage hätte nachdenken können, stürmte Stéphanie auf sie zu.
»Fabienne, du bist zurück! Endlich!« Sie stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus.
»Bonjour, Stéphanie«, sagte Fabienne ein wenig steif.
Doch schon im nächsten Moment schlang Stéphanie ihre Arme um sie. »Ich wusste die ganze Zeit, dass du zurückkommst! Und recht hatte ich!« Ihre hektisch ausgestoßenen Worte verfingen sich in Fabiennes linkem Ohr. Zugleich stieg ihr Stéphanies nach Zigaretten riechender Atem in die Nase. »Ich habe dich so vermisst …« Sie drückte Fabienne noch fester an sich. »Ganze vier Wochen warst du nun weg – mach so was nur ja nie wieder!«
Fabiennes Inneres sträubte sich wie die Stacheln eines Igels. Fast gewaltsam löste sie sich aus Stéphanies Umarmung. »Ich bin nicht ›zurück‹! Ich will lediglich meine restlichen Sachen holen. Hast du meinen Brief denn nicht bekommen, in dem ich dir alles erklärt habe?« Stéphanie sah gut aus, dachte sie. Ihr Blick war wach, ihre Wangen rosig. Dass sie vormittags um elf Uhr überhaupt schon wach war, wunderte Fabienne ebenfalls – zu dieser Zeit schlief Stéphanie normalerweise noch.
Anstatt auf Fabiennes Frage zu antworten, zeigte Stéphanie mit großer Geste aufs Bistro. »Na, was sagst du – ist nicht alles ganz wunderbar in Schuss?«
Fabienne ließ ihren Blick schweifen. Der Boden war gefegt, die Fenster waren geputzt – sogar die Tische waren schon für den Mittagstisch gedeckt!
»Mir scheint, ihr kommt ohne mich ganz gut zurecht.«
»Hast du etwa gedacht, wir lassen während deiner Abwesenheit alles den Bach runtergehen?«, sagte Stéphanie entgeistert. »Das Bistro ist doch unser gemeinsames Kind! Für mich war es selbstverständlich, dass ich bis zu deiner Rückkehr auf alles Obacht gebe.«
»Stéphanie …«, sagte Fabienne gequält. »Ich bin wirklich nicht dauerhaft zurück! Ich bin lediglich gekommen, um –« Weiter kam sie nicht, denn in diesem Moment ging die Küchentür auf und Mia erschien.
»Habe ich doch richtig gehört – die liebe Fabienne!«, sagte die junge Frau, die vom Freudenhaus auf der anderen Straßenseite hierher gewechselt und Fabiennes Platz in der Küche eingenommen hatte. Mit verschränkten Armen schaute sie Fabienne feindselig an. »Dass du dich hier noch mal blicken lässt! Hast du auch nur die leiseste Ahnung, was hier los war, nachdem du so einfach abgehauen bist?« Noch bevor Fabienne einen Ton sagen konnte, drehte sich Mia auf dem Absatz um und verschwand wieder in der Küche.
Wie vor den Kopf geschlagen stand Fabienne da.
Stéphanie seufzte. »So geht das schon die ganze Zeit! Anstatt dich würdig zu vertreten, jammert Mia von früh bis spät nur herum. Der Herd ist zu eigensinnig, den Teig für die Quiche bekommt sie nicht hin, und überhaupt ist alles viel zu viel Arbeit für eine Frau! ›Wenn das so ist, dann frage ich mich, wi