: Silje Ulstein
: Ihr Ein und Alles Psychothriller
: btb
: 9783641288648
: 1
: CHF 8.90
:
: Krimis, Thriller, Spionage
: German
: 496
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Der sensationelle, internationale Bestseller aus Norwegen - kaltblütige Spannung für Fans von Gillian Flynn, Jo Nesbø and Tana French.
Ein packender, sinnlich-atemloser Thriller über Einsamkeit und die vielen Facetten der menschlichen Kaltblütigkeit. Liv, Studentin mit einer schwierigen Kindheit, ertränkt ihr Unbehagen zusammen mit ihren beiden Mitbewohnern regelmäßig in Partys, Alkohol und Joints. Trost findet sie in der Gesellschaft von Nero, einer Baby-Schlange, die sie als Haustier hält und zu der sie sich auf fast symbiotische Weise hingezogen fühlt. In Anwesenheit der Schlange fühlt sich Liv zum ersten Mal in ihrem Leben sicher. Bis jemand aus ihrer Vergangenheit auftaucht und ihr Leben erneut ins Wanken gerät ...

Silje O. Ulstein, geboren 1984, hat an der Universität Oslo Literatur studiert und danach einen Kurs für Kreatives Schreiben in Bergen belegt. 'Ihr Ein und Alles' ist ihr erster Roman, der in Norwegen als 'bestes Debüt dieses Jahrzehnts' gefeiert und in über 10 Ländern erscheinen wird.

Roe


Kristiansund
Freitag, 18. August 2017

Die Uhr auf dem Computerbildschirm nähert sich der Mittagszeit. Ich schaue alle paar Minuten hin und werfe ab und zu einen Blick aus dem Fenster, wo die Fähre Sundbåten in den Hafen zurückkehrt. Der Wind bläst winzige Regentropfen an die Scheibe. Als ich zum ersten Mal hierherkam, dachte ich, das Fenster mit Meerblick würde mir Freude bereiten. Jetzt erinnert es mich nur daran, dass Kristiansund genauso deprimierend ist wie Ålesund, nur dass der Blick aus dem Bürofenster besser ist.

Die Vernehmung des jungen Mädchens, das behauptet, im Schlaf vergewaltigt worden zu sein, ist längst beendet – ich überarbeite gerade den Bericht. Natürlich hätte ich auch mit den anderen in die Kantine gehen und hinterher ein Stück von dem Kuchen essen können, den der Däne als Entschuldigung für irgendeinen Schnitzer mitgebracht hat, den er sich bei der Arbeit erlaubt hatte. Als ich neu bei der Polizei war, mochte ich diese Kuchenrunden. Ich tat sogar so, als würde ich sie immer noch toll finden, als ich zum Vorstellungsgespräch nach Kristiansund fuhr, dabei wollte ich nur weg von Ålesund. Aber diese Runden, bei denen jemand einen Entschuldigungskuchen ausgibt, sind nicht dasselbe, wenn man einen Schreibtischjob hat und nicht mehr im Außendienst ist. Man wird einfach zum Kollegen, der nur vom Kuchen isst und nie einen backt – der sich die Geschichten anhört und sie analysiert, aber keine eigenen mehr erlebt, bei denen er sich einen Fehler erlauben könnte. Einige von den alten Kollegen, die nicht mehr im Einsatz sind, backen immer noch Kuchen und bringen ihn mit, aber das ist irgendwie komisch.

Es geht nicht nur darum, dass ich nicht mehr im Außendienst bin. Nach allem, was passiert ist, kann ich es kaum ertragen, unter Menschen zu sein. Und wenn Polizisten zusammen Kuchen essen, stellen sie Fragen. Sie wollen alles wissen, was in deinem Kopf vorgeht. Ich habe nicht vor, auch nur ein Detail preiszugeben, das sie nicht wissen müssen. Sie finden es hart, einen Junkie von der Straße aufzusammeln, und halten es für eine Tragödie, wenn aus ihren Flirtversuchen nichts wird. Mit solchen Leuten kann ich nicht darüber reden, wie es ist, alles zu verlieren, was einem wirklich etwas bedeutet hat, ohne dass einem klar war, wie wichtig es einem war. Wie es sich anfühlt, wenn man sechzig ist und jedes Jahr, das vergeht, zugleich ein weiteres ist, das zwischen mich und mein Kind gelegt wird. Für mich ist es zu spät. In der Vergangenheit liegt eine immer fernere Erinnerung an Menschen, die ich nicht wertschätzte, als ich sie noch hatte, und in der Zukunft wartet nur der Tod. Aber das kann ich meinen Kollegen nicht sagen. Dann bin ich nur der mürrische alte Mann, der schweigend dasitzt und ihren Kuchen isst. Sie dürfen mich nicht zwingen, dieser Kerl zu sein.

Das Einzige, was mir aus der Zeit in Ålesund fehlt, ist, dass meine dortigen Kollegen genau wussten, wo meine Grenze verlief. Als ich ging, hatte ich keine Ahnung, dass ich das einmal vermissen würde. Sverre kennt mich so lange, dass wir wieder zueinander hätten finden können, wenn ich die Kraft dazu gehabt hätte, aber für ihn ist es auch