In einem seiner politischsten Romane, angesiedelt in einer fiktiven Bananenrepublik, zeigt der Modernist Conrad, wie Profitgier und Machtwille einiger weniger ein Land zugrunde richten. In der Hauptfigur Nostromo wird auf faszinierend exemplarische Weise vorgeführt, dass der Einzelne in einem korrupten, ausbeuterischen System auf verlorenem Posten steht. Faszinierend modern ist an 'Nostromo' nicht nur die Thematik von Machtmissbrauch und politischer Willkür, sondern auch die multiperspektivische Erzählweise, die Leserinnen und Leser zwingt, Identifikation und Parteinahme für die handelnden Figuren permanent zu hinterfragen.
'In seiner Mischung von Liebe und Verachtung für das Leben und in der wirren Überzeugung, verraten worden zu sein, verraten zu sterben, ohne zu wissen, von was oder von wem, ist er immer noch einer aus dem Volk, ihr unbestrittener Großer Mann - mit einer eigenen privaten Geschichte', so charakterisiert Joseph Conrad seinen Helden im Vorwort zum Roman.Joseph Conrad (1857-1924) war polnischer Herkunft und erlernte erst im Erwachsenenalter die englische Sprache. Im Dienst der britischen Handelsmarine und ab 1886 als Kapitän bereiste er die Weltmeere, den afrikanischen Kontinent und den Fernen Osten. Erst spät begann er zu schreiben. Conrads Romane, die um das Thema der menschlichen Einsamkeit und des Ausgeliefertseins kreisen, zählen zu den berühmtesten Werken der englischen Literatur.
Kapitel 1
Zur Zeit der spanischen Herrschaft3 und noch viele Jahre danach war die Stadt Sulaco – deren Orangengärten in ihrer üppigen Schönheit vom Alter des Orts zeugen – aus kommerzieller Sicht nie mehr gewesen als ein Hafen für den Küstenhandel und ein mittelgroßer lokaler Umschlagplatz für Rindsleder und Indigo. Die plumpen Hochsee-Galeonen der Eroberer, die kräftigen Wind brauchten, um sich überhaupt in Bewegung zu setzen, und träge dümpelten, wo moderne Klipper mit einem bloßen Flattern ihrer Segel stramme Fahrt aufnehmen, konnten Sulaco wegen der im großen Golf meist vorherrschenden Flaute kaum erreichen. Mancher Hafen auf der Welt lässt sich wegen tückischer Felsen und stürmischer See nur schwer ansteuern. Sulaco aber hatte in der feierlichen Stille des tiefen Golfo Plácido4 unantastbare Zuflucht vor den Versuchungen des Welthandels gefunden, als läge die Stadt in einem gewaltigen halbrunden Tempel ohne Dach, zum Ozean hin offen und eingerahmt von erhabenen Bergen, in denen die Wolken hingen wie Trauerflor.
Auf der einen Seite dieser ausladenden Einbuchtung im sonst geraden Gestade der Republik Costaguana bildet der letzte Sporn des Küstengebirges ein unbedeutendes Kap namens Punta Mala5. Aus der Mitte des Golfs ist diese Landspitze selbst gar nicht zu sehen; nur die Flanke der steilen Anhöhe im hinteren Teil lässt sich schwach wie ein Schatten am Himmel ausmachen.
Auf der anderen Seite schwebt auf dem gleißenden Horizont leicht etwas, das aussieht wie ein einzelner Fleck aus blauem Nebel. Das ist die Halbinsel Azuera, ein wildes Chaos aus gezackten Felsen und steinernen Terrassen, zerklüftet von senkrechten Schluchten. Sie liegt weit draußen im Meer wie ein grober Steinkopf, der sich auf einem schlanken Hals aus Sand und Dornbüschen aus der grün gewandeten Küste reckt. Sie ist ganz ohne Wasser, denn aller Regen fließt sogleich von den Flanken ins Meer ab, und der Boden reicht – sagt man – nicht aus, um auch nur einen Grashalm zu tragen, als wäre die Gegend durch einen Fluch verdorben. Die Armen, die aus einem dumpfen Trostbedürfnis die Konzepte des Bösen und des Reichtums miteinander verknüpfen, erzählen einem, Azuera sei todbringend wegen der dort versteckten Schätze. Die einfachen Leute aus der Gegend, meistpeones6 auf denestancias,vaqueros der Küstenebene oder zahme Indios7, die mit einem Bündel Zuckerrohr oder einem Korb voll Maiskolben im Wert von etwa drei Pennys meilenweit zum Markt kommen, sind sich ganz sicher, dass Berge aus glänzendem Gold in der Düsternis der tiefen Schluchten liegen, die die Steinterrassen von Azuera kerben. Es ist überliefert, dass schon in alten Zeiten viele Abenteurer auf der Suche nach diesen Schätzen untergegangen sind. Auch erzählen einige Alte, dass sich noch zu ihren Lebzeiten zwei fahrende Seeleute –americanos vielleicht, irgendeine Artgringos aber ganz sicher – beim Kartenspiel mit einem nichtsnutzigenmozo unterhielten, und die drei stahlen einen Esel, der ein Bündel Reisig, einen Wasserschlauch und Vorräte für mehrere Tage tragen sollte. Derart ausgerüstet und mit Revolvern am Gürtel hatten sie begonnen, sich mit ihren Macheten einen Weg durch das Dornengestrüpp am Hals der Halbinsel zu schlagen.
Am zweiten Abend war zum ersten Mal seit Menschengedenken schwach eine gerade Rauchfahne (sie konnte nur von ihrem Lagerfeuer aufsteigen) vor dem Himmel über einer messerscharfen Klippe auf dem Steinkopf auszumachen. Die Besatzung eines Schoners, drei Meilen vor der Küste in einer Flaute, starrte dieses Schauspiel verblüfft bis in die Abenddämmerung an. Ein schwarzer Fischer, der unweit davon in einer einsamen Hütte in einer kleinen Bucht lebte, hatte sie aufbrechen sehen und hielt Ausschau nach irgendeinem Lebenszeichen. Als die Sonne gerade unterging, rief er seine Frau, und gemeinsam betrachteten sie voll Neid, Ungläubigkeit und Furcht dieses seltsame Omen.
Die gottlosen Abenteurer gaben kein weiteres Zeichen von sich. Die Seeleute, den Indio und den gestohlenenburro sah man nie wieder. Dermozo – der immerhin aus Sulaco stammte und dessen Frau einige Messen lesen ließ – und das arme vierbeinige Wesen, das ohne Sünde war, hatten vermutlich sterben dürfen, die beidengringos aber hausen angeblich bis zum heutigen Tag als Geister zwischen den Felsen, unter dem unheilvollen Bann ihres Erfolgs. Ihre Seelen können sich nicht von den Leibern losreißen, die den gefunden