Mala
Der Umzug
Mala war traurig. Heute war der 26. Januar, ihr zehnter Geburtstag. Sie hatte so sehr gehofft, die Familie wäre an diesem Tag wieder vereint. Wie lange war der Vater mit den beiden älteren Geschwistern jetzt schon weg? Auch ihren neunten Geburtstag hatte Mala ohne sie feiern müssen.
»Ich werde euch bald nachholen!«, hatte ihr Vater versprochen, als er sich mit den beiden Großen vor über einem Jahr auf den Weg machte. Lange hatte er ihr in die Augen geschaut, sie schließlich fest an sich gedrückt und ihr einen Kuss auf die Stirn gedrückt.
Dann waren sie gegangen, alle drei.
»Ich hoffe, wir können hierbleiben«, schrieb Malas Vater nach einigen Wochen aus Deutschland. »In Ludwigshafen habe ich eine Arbeit gefunden. Es sind allerdings schwere Zeiten. Der Antisemitismus* breitet sich hier, genauso wie in unserem geliebten Polen, immer mehr aus.«
Danach hörten sie lange nichts mehr von ihm.
Chaja, Malas Mutter, merkte, dass ihre Tochter traurig war, und nahm sie in den Arm.
»Wir werden bald wieder zusammen sein«, versuchte sie Mala zu trösten.
»Warum gehen wir überhaupt weg? Es ist doch schön hier!« Mala hatte sich die Frage schon oft gestellt.
»Ja, es ist schön hier. Und glaub mir, wir würden auch lieber bleiben, als schon wieder wegzugehen. Du hast es vielleicht noch nicht so gemerkt wie wir Erwachsenen. Wir werden hier nicht nur abgelehnt, sondern regelrecht angefeindet. Und warum? Weil wir Juden sind! Wenn irgendetwas passiert, heißt es sofort, die Juden sind schuld. Wenn zu wenig Geld in der Gemeindekasse ist, heißt es, die Juden müssen mehr Steuern bezahlen. Wenn wir unseren Shabbat* feiern, betrachten uns die Menschen als Faulenzer, weil wir am Samstag nicht arbeiten. Sie wissen nichts über unsere Religion und wollen auch gar nichts wissen.«
Chaja unterbrach sich und sah ihre Tochter lange an.
»Aber du hast ja heute Geburtstag, da lass uns über anderes reden. Was möchtest du tun?«
»Nein«, widersprach Mala, »ich hör dir gern zu, wenn du erzählst. So erfahre ich wenigstens etwas über uns, unsere Stadt und das Land.« Mala lächelte ihre Mutter an. »Erzähl mir, warum ihr in diese Stadt gezogen seid. Habt ihr vorher nicht gewusst, dass die meisten Leute hier gegen Juden sind, oder hat sich das erst in den letzten Jahren so entwickelt?«
Chaja nickte.
»Das ist eine gute Frage. Ich glaube, wir haben uns vorher keine Gedanken darüber gemacht. Wir sind hergezogen, weil wir gehofft hatten, hier, im Schtetl*, zur Ruhe zu kommen. Die Zeit, die hinter uns lag, war sehr schwer, besonders für mich.«
Chaja starrte vor sich hin. Die Erinnerungen waren wieder da.
»Wieso war die Zeit denn so schwer? Ich weiß nur, dass ihr in Deutschland gelebt habt. Was war in Deutschland,warum seid ihr dort weggegangen?«
»Ich hole uns noch was zu trinken, dann erzähl ich es dir.«
Als Chaja zurückkam, begann sie zu reden.
»Bevor du geboren wurdest, lebten wir etwas mehr als drei Jahre in Mainz. In der ersten Zeit haben wir uns dort sehr wohl gefühlt. Wir hatten eine schöne Wohnung in einem Hinterhaus. Die Synagoge*, die wir regelmäßig besuchten, war ganz in der Nähe.«
Pinkas, Malas Vater, war ein angesehener Kaufmann gewesen, von dessen Einkommen die Familie gut hatte leben können. Die beiden älteren Kinder, Gitla und Salomon, gingen in eine Mainzer Schule, Jidel war gerade ein Jahr alt. Die Familie sprach gut Deutsch, einzig zu Hause unterhielten sie