: Cal Flyn
: Judith Schalansky
: Verlassene Orte Enden und Anfänge in einer menschenleeren Welt
: Matthes& Seitz Berlin Verlag
: 9783751840101
: 1
: CHF 22.70
:
: Natur und Gesellschaft: Allgemeines, Nachschlagewerke
: German
: 340
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die mehrfach ausgezeichnete schottische Essayistin Cal Flyn erkundet in diesem außergewöhnlichen Buch Orte, an denen keine Menschen mehr leben - oder nur noch wenige ihr Dasein fristen. Es sind Sperrgebiete oder Geisterstädte, Festungsinseln und Niemandsländer, unwegsames Terrain, auf das sich Flyn wagt, als sie verwaiste und verwüstete Orte besuchte, um zu verstehen, was passiert, wenn man der Natur erlaubt, sich ihren Platz zurückzuerobern. Auf einer unbewohnten schottischen Insel begegnet sie einer Herde verwilderter Rinder, in Tschernobyl einer Handvoll Menschen, die nach der Nuklearkatastrophe in ihre kontaminierten Häuser zurückkehrten, und in Detroit, der einst viertgrößten Stadt der USA, trifft sie auf ganze Straßenzüge, die so verfallen sind, dass Tiere und Pflanzen sie übernommen haben. Egal wie trostlos, unheimlich, verwüstet und verseucht die Orte sind, die Flyn erkundet, überall erkennt sie allen Widrigkeiten zum Trotz Anzeichen von ökologischer Resilienz und Regeneration, kurzum: von Leben. Sie entdeckt Pflanzen, die auf kontaminierten Böden gedeihen, Fische, die gegen bestimmte Gifte unempfindlich geworden sind oder einen künstlichen See, der zur belebten Wüste versandet. Ihr Buch ist ein genau recherchiertes und mit literarischem wie psychologischem Einfühlungsvermögen geschriebenes Plädoyer für eine radikale Überprüfung dessen, was wir unter ?Natur? verstehen. Nicht zuletzt bietet es vielfältige, auch verstörende Antworten auf die dringliche Frage, wie der Schaden, den wir an der Natur verursacht haben, noch behoben werden kann.

Cal Flyn, in den schottischen Highlands aufgewachsen, ist Essayistin, Kritikerin u. a. für Granta, The Guardian, The Wall Street Journal. Bereits ihr erstes Buch Thicker than Water erregte große Aufmerksamkeit, Islands of Abandonment wurde mit zahlreichen Auszeichnungen versehen. 2022 wurde sie als Young Writer of the Year geehrt.

ANRUFUNG


Forth Islands — Schottland

In den Tunneln ist es kühl, nicht kalt wie draußen. Und dunkel, stockdunkel. Die Luft steht beinahe, aber nicht ganz – ein Hauch streift die Blätter, die in niedrigen Verwehungen am Rand liegen, wo Wände und Boden aufeinandertreffen. Vielleicht habe ich deshalb das nervenaufreibende Gefühl, nicht völlig allein zu sein.

Um zum Allerheiligsten vorzudringen, muss ich im äußeren Gang über die Kadaver von Möwen und Kaninchen steigen, die sich verirrt oder zum Sterben hierher verkrochen haben. Meine Schritte sind vorsichtig und ich versuche, möglichst nicht hinzusehen. Irgendwann, nachdem mir das vom Stein zurückgeworfene Aufblitzen der Taschenlampe einen Schrecken eingejagt hat, schalte ich sie aus und warte, bis meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben. Durch die angelehnte Metalltür dringt gerade genug Licht, dass ich die breiten Steinstufen erkennen und tiefer ins Innere der Festung vordringen kann.

Die einst weiß verputzten Wände sind jetzt schmutzig marmoriert sowie hier und da von dunklem Schimmelgrün überzogen. Bald allerdings ist es zu düster, um etwas zu erkennen. Obwohl ich mich selbst zur Ruhe mahne, spüre ich, wie mein Puls sich beschleunigt. An jeder Ecke, wo das Unbekannte finster und bedrohlich lauert, muss ich m