: Max Kronawitter
: Ikarus stürzt Mein Tumor, meine Filme und mein neues Leben auf Zeit
: Verlag Herder GmbH
: 9783451832420
: 1
: CHF 16.60
:
: Biographien, Autobiographien
: German
: 256
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Der Filmemacher Max Kronawitter erhält eine schockierende Diagnose: In seinem Gehirn ist ein lebensbedrohlicher Tumor gewachsen. Viele Jahre hat der Journalist Menschen in außergewöhnlichen Lebenssituationen begleitet und auch das Sterben und den Tod dokumentiert. Nun steht er plötzlich auf der anderen Seite. Und er stellt fest: Durch viele seiner gegenwärtigen Fragen und Gefühle ist er mit den Menschen, die er filmisch begleitet hat, schon hindurchgegangen. In seinem Buch dokumentiert er die Erfahrungen seiner Erkrankung und verbindet das eigene Schicksal mit den Lebensgeschichten der Protagonisten aus seinen Reportagen. Entstanden ist ein eindrucksvolles Dokument über eine existenzielle Lebenssituation, über den Alltag nach einer Hirn-OP und über Fragen nach dem Sterben und dem Tod, über Vertrauen und Glück und über das, was im Leben Sinn und Halt gibt. Auch im Medium Buch beweist der Filmemacher dabei ein feines Gespür für Szenen, Perspektiven, Atmosphäre und Stimmungen und behält seine Zuversicht und seinen Humor.

Max Kronawitter, Jahrgang 1962, ist Diplomtheologe, Journalist und Filmemacher. Mit seiner Produktionsfirma Ikarus realisierte er über 200 Dokumentarfilme. Besondere Anerkennung fand 2021 'Todesmarsch - Als das Grauen vor die Haustür kam'. Kronawitter wurde u.a. mit dem Katholischen Medienpreis dem Sozialcouragepreis der Caritas ausgezeichnet. Er lebt mit seiner Familie nahe Bad Tölz.

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Ein Buch zum Überleben


21. Dezember


Als ich aufwache, ist es tiefe Nacht. Zu Hause – Gott sei Dank. Ich schließe die Augen wieder. Das Einzige, was ich tun kann, ist denken. Die Bilder stürzen auf mich ein: Bis vor zwei Wochen war alles in normaler Ordnung, und jetzt ist kein Stein mehr auf dem anderen. Mein Leben ist aus den Fugen geraten.

Da kommt ein Gedanke, wie ein kleiner Lichtstrahl: Waren es nicht immer genau solche Geschichten, die mich für meine Filme inspirierten? Soll ich vielleicht die folgenschwere Wendung meines Lebens verfilmen? Meine berufliche Leidenschaft ruft mir das zu. Der Gedanke hat sich in mein Gehirn geschoben und verfestigt sich zu einer fixen Idee. Aber wie soll ich meine Geschichte erzählen? Ich kann es ja nicht! Ich kann nicht drehen, auch die Bilder nicht bewerten, keinen Computer bedienen, um zu schneiden oder Texte zu schreiben. Wird es irgendwann wieder gehen – in Monaten vielleicht? Bis dahin kann ich nicht warten. Die Geschichte wird jetzt erlebt und muss jetzt erzählt werden.

Ich überlege, wem aus meinem beruflichen Bekanntenkreis ich mein Vorhaben in die Hände legen könnte. Eine Kollegin kommt mir in den Sinn. Ihr würde ich vertrauen. Soll ich sie fragen, ob sie mich in diesen Tagen mit der Kamera begleiten, schon mal Material sammeln und dann später daraus einen Film machen möchte?

So befeuernd der Einfall anfänglich ist, bekomme ich mehr und mehr Zweifel. Möchte ich mich wirklich einer Regisseurin aussetzen, ihr Einblick in mein intimes Seelenleben gewähren?

Als Filmemacher habe ich immer versucht, so lange nachzufragen und dranzubleiben, bis die Protagonisten ihre Barrieren aufgaben und mich in ihr ungeschminktes Leben hineinschauen ließen. Jetzt müsste ich das auf der anderen Seite der Kamera auch tun, meine Hüllen fallen lassen und bedingungslos ehrlich sein. Wie schwer erträglich es sein kann, durchschaut zu werden, habe ich erlebt. Die Protagonistin einer meiner Filme zog sich mitten im Projekt total zurück, ließ sich verleugnen und wollte nicht mehr mit mir reden. Ich habe Blut und Wasser geschwitzt, um den Film doch noch zu einem gelungenen Ende zu bringen.

Möchte ich mich wirklich einem so großen Publikum ausliefern? Je länger ich daliege und in Gedanken unterwegs bin, desto mehr verliert mein nächtlicher Einfall an Genialität. Wie soll sich denn mein ganzes Leben in 30 Minuten pressen lassen? Was geht denn da alles verloren? Ich brauche viel mehr Raum, um diese Geschichte zu erzählen. Und mehr Kontrolle darüber, wie ich sie erzähle. Vielleicht kann ich ein Buch schreiben? Warum eigentlich nicht? Die Idee ist geboren.

Ich wälze ich mich hin und her, aufgepeitscht von der ersten Begeisterung beginne ich im Kopf Sätze zu formulieren. Ich spüre, wie der Journalist in mir wiedererwacht, getrieben von dem Impuls, Bewegendes zu erzählen. Jetzt bin ich es selbst, der seine Geschichte teilen könnte. Der Tumor zwingt mich, mein bisheriges Leben und meine Zukunftspläne in einem ganz neuen Licht zu betrachten. Ich muss mein Leben ändern – eine Herausforderung und eine Chance. Ich erkenne nach und nach, dass es für mich überlebenswichtig ist, von all den neuen Gedanken und Situationen zu erzählen. Das wird meine Strategie. Sie zieht mich in dieser dunklen Nacht aus der Verzweiflung. Sofort am nächsten Morgen werde ich beginnen, sie umzusetzen. Auch wenn ich noch nicht schreiben