Leitlinien zum Umgang mit biblischen Texten im Vorfeld der Predigt. Eine Bilanz des Dialogs zwischen Exegese und Homiletik
Wilfried Engemann
Die Predigtstudien sind seit ihrer Etablierung vor 55 Jahren als einzige homiletische Arbeitshilfe von der Doppelperspektive auf Text und Situation bestimmt. Sie schlägt sich konzeptionell in den »Richtlinien« für den Teil A und B nieder (vgl. die Kurzfassung S. 4), wobei den Autoren durchaus bewusst ist, auch die jeweils andere Perspektive mit im Blick haben zu müssen. Bei der Erarbeitung einer Predigt kommt es ja darauf an, auf Texte und Situationen bezogene Betrachtungsweisen (von der Beschäftigung mit der Sprache und Gestalt der Predigt sowie mit der eigenen Person ganz zu schweigen) im Interesse einer relevanten, verständlichen und überzeugenden Rede zusammenzubringen.
Dass die exegetische und homiletische Zunft auch außerhalb der Predigtstudien in diesen Fragen eng zusammenarbeiten,1 ist insofern folgerichtig, als sichdie Gründe für die Entstehung und den Bedarf biblischer Texte einerseits und zeitgenössischer Predigten andererseits ähneln: Hier wie dort bringen Menschen in ganz unterschiedlichen Situationen – oft genug unter verstörenden Zeiterfahrungen – zur Sprache, was es heißt, »aus Glauben zu leben«. Ob nun in leidenschaftlichen Briefen, spannenden Geschichten, in entschlossenen Manifesten und programmatischen Visionen, ob in geheimnisvollen Erzählungen, poetischen Versuchen und mentalen Bildern – oder in einem sich rhetorisch brillant positionierenden Plädoyer auf der Kanzel: Personen, denen das Schreiben oder Reden gegeben ist, greifen religiöse Traditionen auf, nehmen sie unter je gegenwärtigen Lebensumständen neu in Anspruch – und setzen sie dabei fort. Ein höchst brisantes Unterfangen, das sich da in biblischen Texten und Predigten abspielt.
Was in den Teilen A und B der Predigtstudien von Band zu Band geschieht bzw. erwartet wird, ähnelt in vielen Punkten der oben angesprochenen text- und situationshermeneutischen Doppelperspektive, ohne die weder Texte verstanden noch Predigten erarbeitet werden können. Im Folgenden habe ich versucht, die damit verbundenen Herausforderungen schlaglichtartig in den Blick zu nehmen und in zwölf Thesen auf den Punkt zu bringen. Diese Leitsätze sollen zugleich der gemeinsamen Verständigung und Vergewisserung über die Aufgabe der Predigtstudien dienen.
1. Den Text als Literatur verstehen
Angesichts des enormen religionsgeschichtlichen Zeitrahmens, über den sich die Entstehung der biblischen Zeugnisse erstreckt (etwa 1300 Jahre2 bzw. 45 Generationen), schätze ich an der Exegese, dass sie es mir ermöglicht, einen Bibeltext als ein höchst individuelles, eigensinniges, in Raum und Zeit verankertes StückLiteratur mit begrenzter Reichweite in den Blick zu bekommen. Ihre Instrumentarien erlauben es mir, den Text zu fragen: Was ist passiert? Welche Erfahrung verarbeitest du? Was ist dein Problem? Welche Auffassung vertrittst du in dieser Sache? Was sind deine Beweggründe? Was ist deine Vision? Mit welchen Argumenten machst du dich dafür stark?
Biblische Texte entstanden im Prinzip unter den gleichen Bedingungen wie Literatur sonst. Ich habe Entscheidendes für den Umgang mit biblischen Texten verstanden und bin gegen jeglichen Textfundamentalismus gewappnet, wenn ich diese Bedingungen kenne – und es ist heute vielleicht besser denn je möglich, sie zu kennen.
2. Den ganzen Text sprechen lassen
Den Text als Literatur verstehen zu wollen, schließt ein, ihn alsganzen Text zu brauchen, alstextum, alszusammenhängendes Gewebe. Es gilt, den zum Teil verschlungenen Pfaden seiner sinngenerierenden und sinnverweigernden Struktur zu folgen und nach Möglichkeit zu einem situationsbezogenen Gesamtverständnis vorzudringen: Die Vertiefung einzelner Begriffe, die Sondierung der Verfasserfrage, der Vergleich mit ähnlichen Texten u.a.m. – alles das sollte mir schließlich helfen zu verstehen, warum es diesen Text gibt, wofür es ihn brauchte, wofür er vielleicht eine Lösung sein sollte.3
Der Anspruch, zu einem Gesamtverständnis vorzudringen, ist der Notwendigkeit geschuldet, denText in seiner Funktion zur religiösen Daseinsbewältigung in den Blick bekommen zu müssen – als eine intellektuell oft anspruchsvolle Neuinterpretation sowohl der damaligen Situation als auch der Tradition: Da setzt jemand, indem er schreibt, einen Impuls frei, mit dem er ein bestimmtes Denken vorschlägt, eine Haltung favorisiert oder eine neue Sicht der Dinge eröffnet. Um diesen Text zu verstehen, muss ich sowohl die Motivation dieses Impulses kennen als auch einschätzen können, was welchen Lesern in welcher Situation damit vorgeschlagen bzw. zugemutet oder zugetraut wird.
3. Nach Beweggründen und Situationen fragen
Ein Gesamtverständnis vom Text zu gewinnen ist zudem unentbehrlich für die Erkundung relevanter Analogien zwischen Situationen und Beweggründen damals und heute, sofern uns daran liegt, in der Kommunikation des Evangeliums von damals bis heute eine Tradition sehen zu wollen – und sei es eine Tradition mit Brüchen, Veränderungen, Variationen, Reformen. Der in einem Text jeweils aufscheinende, den Text mi