KAPITEL EINS
Am Anfang war es bloß Training. Nur zum Spaß, um etwas fitter zu werden. Weil ich mir damit etwas beweisen wollte. Wann es zu einem Sport wurde – zu meinem inneren Aufstand –, wusste ich nicht mehr.
Manchen mag es leichtsinnig erscheinen, dass ich ausgerechnet nachts auf die Jagd ging, obwohl ich als Mensch gegenüber meiner Beute dann deutlich im Nachteil war. Aber die anderen gingen nachts auf die Jagd, also tat ich es auch.
Den Dolch fest umklammert, presste ich mich mit dem Rücken gegen die Wand. Es war eine warme Nacht, eine dieser Nächte, in denen die Glut der Sonne nach Anbruch der Dunkelheit noch in der stickig feuchten Luft hing. Wie eine dichte, faulige Wolke umwehte mich der Gestank nach verdorbenen Essensresten im Müll auf den Straßen, ja, auch das, aber ebenso nach verrottendem Fleisch und säuerlich riechendem Blut. Hier in den von Menschen bewohnten Bezirken im Herrschaftsgebiet des Hauses der Nacht machten sich die Vampire keine Mühe, hinter sich aufzuräumen.
Eigentlich sollte diese Schutzzone innerhalb der Grenzen des Königreichs für Menschen als sicher gelten – obwohl sie gegenüber den Nachtgeborenen als minderwertig galten. Aber angesichts dieser zweiten Tatsache verlor die erste nur allzu oft an Bedeutung.
Der Mann war ein Hiaj, seine Flügel hatte er dicht am Rücken zusammengefaltet. Offenbar hielt er nicht viel von Magie, sonst hätte er sie nämlich einfach verschwinden lassen können, um sich die Jagd leichter zu machen. Vielleicht ging es ihm aber auch genau um die Wirkung, die die Flügel auf seine Beute hatten. Manche waren solche Angeber und legten es darauf an, dass man Angst vor ihnen hatte.
Vom Dach aus beobachtete ich, wie der Mann sein Zielobjekt anvisierte – einen kleinen Jungen, etwa zehn Jahre alt, obwohl er eindeutig unterernährt und schmächtig wirkte. Der Junge spielte im eingezäunten, staubigen Hof eines Lehmhauses und trat einen Ball vor sich her. Er merkte nicht, dass ihm der Tod auflauerte.
Nachts allein nach draußen zu gehen war so schrecklich dumm von diesem Jungen. Andererseits wusste ich besser als jeder andere, wie es war in ständiger Gefahr aufzuwachsen. Vielleicht hatte die Familie in den letzten zehn Jahren Abend für Abend darauf geachtet, dass die Kinder im Haus blieben. Und dann reichte es, wenn die Eltern nur ein einziges Mal nicht aufpassten, weil sie mit etwas anderem beschäftigt waren und vergessen hatten, den Jungen wieder reinzuholen. Oder das Kind war trotzig und weigerte sich, zum Essen zu kommen. An nur einem einzigen Abend in einem ganzen Leben.
So etwas passierte oft.
Heute Abend würde jedoch nichts passieren.
Sobald sich der Vampir bewegte, bewegte ich mich auch.
Ich ließ mich vom Dach herunter auf das Kopfsteinpflaster gleiten. Nahezu lautlos, aber Vampire haben ein unfehlbares Gehör. Mit eiskaltem Blick drehte der Mann sich um und entblößte grinsend das scharf schimmernde Elfenbein seiner Zähne.
Hatte er mich erkannt? Manchmal erkannten sie mich. Aber bei diesem hier ließ ich es gar nicht erst so weit kommen.
Mittlerweile war es schon Routine. Eine Strategie, die ich in Hunderten solcher Nächte perfektioniert hatte.
Zuerst die Flügel. Zwei Schlitze, in jeden Flügel einen – das reichte, um ihn am Wegfliegen zu hindern. Bei Hiaj-Vampiren ging das ziemlich einfach. Die membranartige Haut war hauchdünn wie Papier. Manchmal geriet ich auch an Rishan-Vampire. Das war dann eher eine Herausforderung, denn ihre gefiederten Flügel waren nicht so leicht aufzuschlitzen. Doch ich hatte meine Technik schon verfeinert. Diese Maßnahme war notwendig, damit sie dicht bei mir auf dem Boden blieben, deshalb machte ich das immer zuerst. Nur ein einziges Mal beging ich den Fehler, nicht als Erstes die Flügel aufzuschlitzen, und diese Lektion hätte ich fast mit dem Leben bezahlt.
An Stärke konnte ich es nicht mit ihnen aufnehmen, also musste ich auf Präzision setzen. Kein Raum für Fehler.
Der Vampir gab ein Geräusch irgendwo zwischen schmerzhaftem Keuchen und wütendem Knurren von sic