Kapitel 1
Erschrocken löste Lara ihre Arme vom Hals des Ponys und sah durch einen Tränenschleier auf.
»Was tun Sie da?« Vor ihr stand ein hochgewachsener Mann, der mit Jeans und Cowboyhut aussah wie aus der Zigarettenwerbung. Dunkle Locken quollen unter seinem Hut hervor. Sein Gesichtsausdruck wirkte, als würde er gleich den Colt ziehen.
»Das ist mein Pferd.« Sie streichelte ihre Stute an der Stirn, und diese schürzte genussvoll ihre Lippen zu einer Grimasse. Das Fell, der Geruch. Alles war vertraut, obwohl sie 19 Jahre lang nicht mehr hier gewesen war.
Einen Moment hatte sie innegehalten, nachdem sie der Taxifahrer vor dem schmiedeeisernen Tor der Ranch abgesetzt hatte. Es schnürte ihr den Hals zu, als sie das alte Reetdachhaus wiedersah. »786« stand an der Fassade, die »1« von der Jahreszahl war verschwunden.
Mehrere Generationen ihrer Familie hatten ihr Zuhause hier hinter dem Deich gehabt. Es sah genauso aus wie damals. Der Geruch, eine Mischung salzhaltiger Luft mit dem Duft der zahlreichen Rosen und von Lavendel, war so vertraut. Wie ferngesteuert war sie durch die kleine Pforte neben dem Tor geschlüpft. Ihr Koffer holperte über das bucklige Kopfsteinpflaster. Nirgendwo hatte sie so prächtig blühende Rosen gesehen wie hier an der Nordsee. Rote, gelbe und weiße Blütenköpfe reckten sich im Spalier den ganzen Weg entlang bis zum Haupteingang an der Seite, geschützt vor den Herbststürmen.
Genau wie damals in ihrer Kindheit war sie direkt zu den Koppeln marschiert. Die letzten Meter rannte sie, denn sie hatte das hellbraune Kleinpferd mit der blonden Mähne und den ausdrucksvollen dunklen Augen entdeckt. Ihre Hanna. Sie lebte, das hatte sie kaum zu hoffen gewagt.
Die Stute stand mit ihrer Herde auf dem vordersten Paddock. Sie hob den Kopf und schien in Laras Richtung zu sehen. Mit einem leisen Schnauben war das Pferd langsam auf sie zugekommen, dann hatte sie lange an ihrer Hand geschnüffelt. Lara konnte die Tränen, die sich wie eine innere Talsperre angestaut hatten, nicht mehr zurückhalten. Sie hatte ihr Gesicht ins Fell versenkt und den vertrauten Geruch eingesogen. Verstohlen wischte sie mit dem Handrücken über die Augen.
»Das wüsste ich aber. Ich habe Sie hier noch nie gesehen!« Der Mann sah sie prüfend an und strich Hanna über den Hals.
»Ich bin Lara, Johannas Enkelin.«
Er zog seine Hand zurück und musterte sie mit zusammengepressten Lippen. Er hielt es nicht für nötig, sich vorzustellen.
»Und Sie sind?«
Er antwortete nicht, stattdessen ging er in Richtung Reitplatz weiter. Dabei murmelte er: »Das verstehe ich nicht, wie man sein Pferd zurücklässt wie ein Sportgerät, das man nicht mehr braucht.«
Tausende Erwiderungen lagen ihr auf der Zunge, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken. Was nahm der Mann sich heraus? Vermutlich war er ein Reitlehrer. Sie sah ihn, wie er mit zwei Reiterinnen und Pferden auf den Reitplatz ging und ihnen Anweisungen zurief. Was war das für ein Akzent?
Ihr Pony stupste sie mit der Nase wieder an, wie um zu sagen »weiterstreicheln«. Schon früher war es ein kleiner Frechdachs.
Am Morgen ihres siebten Geburtstags hatte ihre Großmutter sie mit diesem Blick geweckt, der verriet, dass sie etwas im Schilde führte. Sie hatte es kaum erwarten können, die sieb