: Thomas Erle
: Die Kapelle Roman
: Gmeiner-Verlag
: 9783839278680
: Romane im GMEINER-Verlag
: 1
: CHF 8.70
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 232
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Der Kunsthistoriker Benedikt Oswald wird von einem Freiburger Kollegen gebeten, in einem Schwarzwalddorf ein Gutachten über den Erhalt einer Kapelle zu erstellen. Doch es kommt anders. Vom Tag der Anreise an findet er sich einer seltsamen Welt gegenüber. Ereignisse aus ferner Vergangenheit werden lebendig, die Gegenwart verwirrt ihn. Die unscheinbare Kapelle mit der Statue der Heiligen Barbara öffnet ihm einen Weg, auf dem nichts ist, wie es scheint. Und dann gibt es die geheimnisvolle Witwe, mit der er sich auf unerklärliche Weise verbunden fühlt.

Thomas Erle, in Schwetzingen geboren, verbrachte Kindheit und Jugend in Nordbaden. Nach dem Studium in Heidelberg zog es ihn auf der Suche nach Menschen und Erlebnissen rund um die Welt. Es folgten 30 Jahre Tätigkeit als Lehrer, in den letzten Jahren als Inklusionspädagoge. Parallel dazu entfaltete er ein vielfältiges künstlerisches Schaffen als Musiker und Schriftsteller. Seit Ende der 90er Jahre verfasste er zahlreiche Kurzgeschichten, von denen die erste 2000 veröffentlicht wurde. 2008 erschien sein erster Kurzkrimi. 2010 gehörte er zu den Preisträgern beim Freiburger Krimipreis, 2011 folgte die Nominierung zum Agatha-Christie-Krimipreis. Thomas Erle ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt am Rande des Schwarzwalds bei Freiburg.

Kapitel 2


Das rhythmische Aufblitzen der Scheinwerfer verschmolz zu gleichförmiger Klarheit. Ich blinzelte in den mit Tageslicht erfüllten Raum. Um mich die Wärme des Schlafes. Es roch nach Kaffee.

Die Matratze stöhnte leise, als ich aufstand. Die Hose und das Hemd an meinem Körper brachten die Erinnerung an den gestrigen Tag zurück. Man hatte mich in dieses Zimmer gebracht, mir Schuhe und Socken ausgezogen und mich ins Bett gelegt. Italienisch. Ein Mann, eine Frau.

Wärme.

Ich trat zum Fenster und schob den mit großen bunten Blumen bedruckten Vorhang zur Seite.

Gegenüber eine durchgehende Häuserfront mit Schaufenstern im Erdgeschoss, unter mir die Straße, Autos am Gehweg, verschneit. Die Sonne über den Dächern nur als helles Leuchten hinter einer durchgehenden Wolkendecke.

Meine Reisetasche stand auf dem Boden hinter der Zimmertür. Ich kramte Bürste und Zahnpasta heraus, trat an das Waschbecken und begann, die Zähne zu putzen.

Nach dem Ausspülen schlug ich mir ein paar Hände voll Wasser ins Gesicht. Eine Angewohnheit seit Kindertagen und eine bewährte Methode, um rasch wach zu werden. Dann erst der erste richtige Blick, der normalerweise eher flüchtig und unbewusst vorübergeht.

Ich gehöre nicht zu den Menschen, die sich gleich zu Tagesbeginn im Spiegel ausführlich betrachten. Es war mir nie wichtig, wie zerknittert oder gealtert oder attraktiv ich aussah. Die seit Jahren grassierende Mode, dass Männer ihr Aussehen mit allerlei straffenden, schützenden, nährenden, duftenden Cremes und Wässern glaubten beeinflussen zu müssen und zu können, war mir bis heute unverständlich und fremd geblieben. Ich war mir sicher, dass Belmondo, Adorf oder Connery einen guten Teil ihrer Attraktivität dem Umstand verdankten, dass sie der Natur weitgehend ihren Lauf ließen.

Ich weiß nicht, was es war, dass ich heute ein paar Momente länger vor dem Spiegel stehen blieb als üblich. Meine hellbraunen Haare, in denen sich vereinzelte Silbersträhnen abzeichneten, strebten reichlich zerzaust in alle Richtungen. Die kleinen Säckchen unter den Augen waren wie in jeder Nacht etwas größer geworden, Wangen und Kinn zierten dunkelblonde Bartstoppeln. Die Haut blass mit ein paar wenigen hellbraunen Flecken. Ein ganz normaler Mittvierziger, der den Großteil seines Lebens in Bibliotheken, Seminarräumen, Museen und Kirchen verbracht hatte, ein Gesicht so spannend wie die Zeitung von gestern.

Ich sah auf die Uhr, es war kurz vor 7.30 Uhr. Im Haus war es ruhig. Ich räumte meine Sachen in die Tasche, kippte das Fenster und trat hinaus auf den Flur.

Im dämmrigen Morgenlicht sah ich ein paar weitere Türen, die der glichen, hinter der ich die Nacht verbracht hatte. Auf Augenhöhe waren kleine ovale Messingschildchen mit der Zimmernummer angeschraubt.

Am Ende des Ganges hing ein protziger Spiegel mit mehrfach verziertem Goldrahmen, der überhaupt nicht zu der ansonsten eher zweckmäßigen Ausstattung passte. Die Grünlilie auf der Kommode da­runter teilte sich den Platz mit einem Strauß rot-weißer Plastikblumen, dazwischen ein Stapel großzügig ausliegender Hausprospekte. Sie bestätigten meine verschwommenen Erinnerungen an den gestrigen Abend