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Meine Kindheit war heiter und frei. Sie mir ins Gedächtnis zurückzurufen, sie erneut in meinem Bewusstsein erstrahlen zu lassen, ist ein aussichtsloses Unterfangen. Ich sehe das Mädchen vor mir, das ich mit sechs, mit zehn Jahren war, als hätte ich sie nur geträumt. Ein schöner Traum, der angesichts der Realität der Gegenwart verschwindet. Er wird eingehüllt von einer Melodie oder auch einer ebenso zarten wie pulsierenden Harmonie, einem Licht, und der immer noch großen Freude, wenn ich daran zurückdenke.
In der langen dunklen Phase meines Lebens habe ich diese frühe Zeit als etwas Perfektes, als das wahre Glück angesehen. Jetzt, mit einem weniger von Angst und Sorgen getrübten Blick, erkenne ich, dass auch über meinen ersten Lebensjahren einige diffuse Schatten lagen, und spüre, dass ich mich schon als Kind nicht ganz glücklich gefühlt haben konnte. Aber auch nie unglücklich, sondern frei und stark, ja, das dürften meine Gefühle gewesen sein. Ich war die Älteste, und ich hatte keine Scheu, meine zwei jüngeren Schwestern und meinen Bruder meine Überlegenheit spüren zu lassen. Mein Vater zog mich ihnen offensichtlich vor, und ich verstand nach und nach immer besser, warum er mich so erzog. Ich war – so hieß es jedenfalls – gesund, anmutig, klug, hatte Spielsachen, Süßigkeiten, Bücher und ein Stück Garten ganz für mich allein. Meine Mutter verbot mir nie etwas. Selbst bei meinen Freundinnen gab ich den Ton an.
Die Liebe zu meinem Vater beherrschte mich. Ich mochte meine Mutter, aber für meinen Vater empfand ich grenzenlose Verehrung. Diese Diskrepanz war mir bewusst, aber über die Gründe wagte ich nicht nachzudenken. Er war das leuchtende Vorbild meiner noch jungen Persönlichkeit, das Symbol für die Schönheit des Lebens, und instinktiv glaubte ich, dass seine faszinierende Ausstrahlung gottgewollt war. Niemand war so wie er, er wusste alles und er hatte immer recht. Stundenlang gingen wir Hand in Hand spazieren, durch die Stadt oder vor ihren Toren, ich fühlte mich leicht, wie über allem schwebend. Er erzählte mir von den Großeltern, die kurz vor meiner Geburt gestorben waren, von seiner Kindheit, den wunderbaren Erlebnissen und den französischen Soldaten, die er mit acht Jahren in seiner Heimatstadt Turin hatte einmarschieren sehen, als es »Italien noch nicht gab«. Eine solche Vergangenheit hatte etwas Unwirkliches. Er ging neben mir, ein schlanker hochgewachsener Mann mit schnellen Bewegungen, den Kopf stolz aufgerichtet, auf den Lippen das triumphierende Lächeln der Jugend. In diesen Augenblicken erschien mir die Zukunft voller vielversprechender Abenteuer.
Mein Vater organisierte meinen Unterricht und meine Lektüren, ohne jedoch viel von mir zu verlangen. Die Lehrerinnen hingen an seinen Lippen, wenn sie zu uns nach Hause kamen, manchmal sogar mit einer gewissen Ehrerbietung, so kam es mir zumindest vor. In der Schule gehörte ich immer zu den Besten und hatte oft das Gefühl, privilegiert zu sein. Vom Beginn meiner Schulzeit an bemerkte ich den Unterschied in Kleidung und Mahlzeiten. Ich konnte mir gut vorstellen, wie es in den Familien meiner Mitschülerinnen zuging, Arbeiterfamilien, die schwer schuften mussten, oder Kaufleute, die ein einfaches Leben führten. Wenn ich nach Hause kam, betrachtete ich das glänzende Schild neben dem Eingang, auf dem der Name meines Vaters zusammen mit seinem Titel eingraviert war. Als ich fünf Jahre alt war, hörte mein Vater nach einer Auseinandersetzung auf, in meiner Heimatstadt Naturwissenschaften zu unterrichten, und tat sich mit seinem Schwager aus Mailand zusammen, der ein großes Handelshaus besaß. Ich verstand, dass er sich mit dieser neuen Situation nicht besonders wohlfühlte. Wenn ich ihn an manchen freien Nachmittagen nach Hause kommen und das kleine Zimmer betreten sah, wo seine Gerätschaften für physikalische und chemische Experimente untergebracht waren, wurde mir klar, dass er sich nur dort wirklich an seinem Platz fühlte. Was würde mir mein Vater noch alles beibringen können!
Ich war nicht ungeduldig, aber die Neugier war ein starker Antrieb in meinem Leben. Ich langweilte mich nie. Oft lehnte ich es ab, meine Mutter zu begleiten, wenn sie irgendwelche Besuche machte, sondern blieb zu Hause, kuschelte mich in einen tiefen Sessel und las Bücher zu ganz unterschiedlichen Themen, die ich oft nicht verstand, an deren Fantasien ich mich aber berauschen und in denen ich komplett versinken konnte. Manchmal hielt ich inne, um unklare Gedanken zu formulieren, oft mit halblauter Stimme, als rezitierte ich Verse, die mir von einer inneren Stimme diktiert wurden. Ich empfand häufig Scham, zum Beispiel wenn ich in meinem Sessel schmachtende Positionen einnahm und mich dazu hinreißen ließ, mir vorzustellen, ich sei eine verführerische Schönheit. Konnte ich zwischen Affektiertheit und Natürlichkeit unterscheiden? Mein Vater betrachtete jede Form der Poesie mit einer gewissen Geringschätzung und Gleichgültigkeit, er sagte immer, er verstünde sie nicht. Meine Mutter deklamierte hin und wieder eine zärtliche oder sehnsuchtsvolle Gedichtzeile oder zitiert