1
Ich kann nichtmehr genau sagen, wie ich am Abend vor den Weihnachtsferien in Zev Nemans Schlafzimmer gelandet war. Es war bitterkalt– Dezember in New Hampshire –, und auf dem Rückweg von der Bibliothek hatten wir uns gestritten, diesmal darüber, ob der Windchill-Effekt ein wissenschaftlich fundiertes Wetterphänomen ist, wie Zev glaubte, oder ein Dreh, den irgendwelche Wetteragenten ausgeheckt hatten, um uns von der drohenden globalen Erderwärmung abzulenken.
»Wetteragenten?«, sagte Zev. Er hatte einen leicht israelischen Akzent. »Isabel! So was gibt es doch gar nicht.«
»So ist es aber«, sagte ich und stieg über einen schmutzigen Schneehaufen.
Zev blieb unter einer Straßenlaterne vor seinem Wohnheim stehen und verschränkte die Arme; sein schmales Gesicht war von Schatten zerfurcht. »Ich hab dich nie für eine Verschwörungstheoretikerin gehalten. Eine militante Linke vielleicht, aber Verschwörungstheoretikerin?« Er schüttelte den Kopf.
»Ist aber doch eine Überlegung wert, oder?« Ich versuchte, seinen Blick zu deuten, aber Zev war wie immer undurchschaubar. Der Wind zerrte an meinem Mantel und fuhr mir durch die Jeans bis auf die Haut.
»Egal, jedenfalls ist es verdammt kalt.« Er deutete mit dem Kopf auf die Tür. »Kommst du mit rein?«
Ich zuckte die Achseln und folgte ihm in das niedrige Gebäude.
So also war ich wohl in Zev Nemans Zimmer gelandet: Er hatte mich eingeladen, und ich hatte nicht Nein gesagt.
Sein Einzelzimmer mit Blick auf den Fluss war ordentlich und aufgeräumt. Das Bett war gemacht, auf dem Boden lagen keine Klamotten herum; es roch sogar sauber. Nicht wie die Zimmer anderer Jungs, die ich in meinen fast vier Jahren am Wilder College gesehen hatte. Die Sauberkeit führte ich auf Zevs zweijährigen Dienst in der israelischen Armee zurück, in denen er das jüdische Vaterland verteidigt hatte– mein Vaterland, wie er mir gern ins Gedächtnis rief. Er zog den Parka aus und ließ sich aufs Bett fallen. Auf dem einzigen Stuhl stapelten sich Bücher, deshalb sah ich mir sein Bücherregal an: Fachliteratur zum Thema Ökonomie, Bücher auf Hebräisch, ein paar Paperback-Thriller, so dick wie Türstopper. Diesen Teil wollte ich überspringen, den, in dem man sich fragt, wann das, wofür man ins Zimmer eines Jungen gekommen ist, passieren wird, wann man mit dem Small Talk aufhören kann, der einem bloß auf hunderterlei Arten vor Augen führt, dass dieser Junge, überhaupt irgendein Junge, einen nie verstehen wird. Wenn man die Sprache hinter sich lässt und gleich zum Hautkontakt übergeht.
Ich zog eine zerfledderte Ausgabe vonGedankenlos: Das Lied vomHenker aus dem Regal. Daneben stand das gerahmte Foto eines Mädchens am Strand mit schwarzem Bikini und verspiegelter Sonnenbrille.
»Wer ist das?«
Zev warf einen Basketball in seinen Händen hin und her. »Meine Freundin, Yael«, sagte er, als hätten wir gerade über sie gesprochen, obwohl er sie bisher noch nie erwähnt hatte, nicht mal, dass er überhaupt eine Freundin hatte.
Ich nahm das Bild in die Hand. Yael war hübsch. Sehr hübsch sogar. Lange Beine, olivfarbene Haut, sonnengebräunt, von der Sonne ausgebleichtes bernsteinfarbenes Haar. Ich fragte mich, ob ich vielleicht auch so ausgesehen hätte, wenn meine Vorfahren nach links statt nach rechts abgebogen wären, als si