TEIL 2
DIE BARBAREN
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An diesem Brief schreibe ich schon seit geraumer Zeit. Ich habe ihn sogar schon mehrmals geschrieben. Erst trotzig, dann weinerlich, schließlich humoristisch: »Ich heiße Salim Taufiq. Wenigstens das entspricht der Wahrheit.« Ich habe alle Versionen verbrannt. Ich werde versuchen, euch die Dinge nüchtern zu schildern.
Fangen wir mit dem an, was in Markab geschah.
Nach meinem Studienabschluss an der Columbia und meinem ersten und einzigen Haddsch schrieb ich mich mit einem klaren Ziel vor Augen an der Islamischen Universität in Markab ein. Genauso wie es kein Studium gibt, mit dem man Premierminister wird, gibt es natürlich auch kein Studium, mit dem man Macht erlangt, dennoch wollte ich genau das erreichen. Wie könnte man Menschen wie mir besser helfen als mit Macht? Nein, das ist eine Lüge. Ich hatte schon immer ein großes Talent, mir die Dinge passend zurechtzulegen und mir einzureden, eine Täuschung wäre ehrenhafter als eine schmerzliche Wahrheit. Ich war begierig auf eine einflussreiche Position, weil sie für mich Akzeptanz und Bestätigung bedeutet hätte. Das zu werden, was ich jetzt bin – ein an einen unbedeutenden Ort vertriebener Mann – erschien mir damals für eine Persönlichkeit wie mich vollkommen unpassend. Ich war auserwählt! Ich war so verblendet, wie man es normalerweise nur von jungen Menschen im Westen kennt. Khadija, meine liebste Freundin im College, hat mal gesagt, dieser Ehrgeiz sei mein Versuch, meinen Glauben mit meinem Intellekt in Einklang zu bringen. Sie hielt mich für dumm zu denken, dass mir das je gelingen könne.
In Saudi-Arabien, in Markab, habe ich mich zum ersten Mal verliebt. Ja, im College hatte ich mit Adam geschlafen, aber damals liebte ich ihn nicht. Zu eurer Information: Ich weiß, dass ihr meine Veranlagung kennt – ganz so unauffällig waren eure Aktionen nicht –, aber ich will euch von nun an nicht mehr mit Geheimnissen kränken. Meine erste große Liebe war nicht Adam. Meine erste große Liebe war der achte und jüngste Sohn eines pakistanischen Generals, ein Kommilitone namens Mohammed Ali Riyaz. Er war nicht nach dem Boxer benannt, sondern nach der Straße in Bombay, in der er geboren wurde, während sein Vater an einer Konferenz mit indischen Funktionären teilnahm.
Nach einem Kurs zum Koranstudium, in dem ich aus Angst, unwissend zu erscheinen, kein einziges Mal den Mund aufgemacht hatte, entdeckte ich Mohammed Ali an einem der Plastiktische in der Cafeteria, die Hakennase inSaadi’s Bostan vergraben. Ich würde bald erfahren, dass er der Dichtung jederzeit den Vorzug vor der Heiligen Schrift gab und die beiden für nicht vergleichbar hielt. Als ich ihn fragte, ob ich mich zu ihm setzen dürfe, rezitierte er: »Mir lebte in Isfahan ein Freund, kampfeslustig, munter und von edlem Mut.«
»Oh Löwenbezwinger!«, rief ich. »Was hat dich zermürbt wie einen alten Fuchs?«
Komisch, oder? Wie alle Dinge von ihrem Anfang geprägt werden?
Mohammed Ali besaß ein Gesicht, das im Alter nur noch schöner werden würde. Wenn er lächelte, zeichnete sich auf seiner Stirn eine Linie ab, die sich einst in seine erste Falte verwandeln würde. Er war schlank, aber er hatte breite Hüften. Er konnte zuhören, ohne den Kopf zu bewegen, wie ein älterer Mann. Fromm war er nicht; er absolvierte das Studium nur auf Anordnung seines Vaters. Was Mohammed Ali eigentlich wollte, war malen, aber das war natürlich völlig undenkbar. Ein Sohn mit einer klassischen Ausbildung in islamischem Recht würde sich in der Vita des Generals dagegen äußerst gut ausnehmen. An jenem Tag in der Cafeteria aber fühlte es sich an, als würden wir lange und ausführlich über nichts Besonderes reden. Ich erfuhr, dass er verheiratet war und sein Heimatland bisher nur ein einziges Mal verlassen hatte, nämlich um in Berlin sein Studium abzuschließen. Er wirkte liebenswürdig und weltfremd; er war der Überzeugung, der Sears Tower sei eine Fiktion, ein so hohes