: Hektor Haarkötter
: Küssen Eine berührende Kommunikationsart
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104910390
: 1
: CHF 18.00
:
: Gesellschaft
: German
: 288
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
In seinem Streifzug durch Geschichte und Theorie des Küssens fragt Hektor Haarkötter: Was macht das Küssen eigentlich aus? Warum küsst man nicht überall auf der Welt, sondern nur in bestimmten Kulturen? Was verbindet Liebeskuss, Bruderkuss, Abschiedskuss, Filmkuss und den Gutenachtkuss? Haarkötters Antwort: Küssen ist ein Akt der Kommunikation. Das zeigt er u.a. am naturwissenschaftlichen Wissen über den Kuss, an seiner Geschichte von der Antike bis heute, am Kuss in Film, Literatur, Märchen und der Kunst, an Fragen wie: Ist küssen privat? Was ist der Unterschied zwischen Sex und Küssen? Warum küsst man Gegenstände wie z.B. Ringe? Und was hat die Bussi-Bussi-Gesellschaft mit all dem zu tun? Küssen, das zeigt Haarkötter so augenzwinkernd wie informiert, ist eine ganz eigentümliche Art der Kommunikation. Und es könnte sein, dass ihre Zeit zu Ende geht. Doch wie sieht eine Welt aus, in der nicht mehr geküsst wird?

Hektor Haarkötter, geb. 1968, ist Professor für Kommunikationswissenschaft mit Schwerpunkt politische Kommunikation an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg. Er studierte u.a. Philosophie, Geschichte, Deutsche Philologie und Soziologie in Rom, Düsseldorf und Göttingen und arbeitete als Journalist und Fernsehregisseur. Ehrenamtlich ist er geschäftsführender Vorstand der Initiative Nachrichtenaufklärung, die jedes Jahr die »Top Ten der vergessenen Nachrichten« veröffentlicht. Für seine Arbeiten hat er zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen erhalten, u.a. den Columbus Filmpreis in Gold.

04Der natürliche Kuss.


Zunächst müssen Du und ich klären, was das Küssennicht ist. Viel kognitiver und wissenschaftlicher Aufwand ist betrieben worden, um zu zeigen, dass das Küssen ein natürliches, ein der GattungHomo sapiens quasi biologisch eingraviertes, ein angeborenes und damit unvermeidbares Phänomen sei. Viele Beiträge über das Küssen können es darum auch nicht unterlassen aufzuzählen, dass beim Küssen 34 Gesichtsmuskeln und 112 Nacken- und Halsmuskeln beteiligt seien, dass der Mensch durchschnittlich von 70 Lebensjahren mehr als 76 Tage mit Küssen verbringe oder dass beim Küssen 0,7 g Fett, 9 mg Wasser, 0,45 mg Salz, Hunderte Bakterien und Millionen Viren ausgetauscht würden. Weil solche Daten naturwissenschaftlich aussehen, wird der Eindruck vermittelt, das Küssen selbst müsse ein natürliches, ein biologisches Faktum sein. Man könnte das einen naturalistischen Fehlschluss nennen. Auch dass das Küssen mittels Körperteilen ausgeübt wird, mag ein Anlass für diesen Fehlschluss sein (denn um einen solchen handelt es sich zweifelsohne), es für etwas Kreatürliches, einen physiologischen, einen medizinischen oder gar schlicht einen physikalischen Sachverhalt zu halten. Nichts weniger als das ist das Küssen. Um die Gründe, warum es zu diesem Fehlschluss kam, zu verstehen, müssen Du und ich uns die Argumente ansehen, die für diese Interpretation des Küssens ins Feld geführt wurden.

Vorgegeben hat den Ton der Debatte kein Geringerer als der Erfinder der Psychoanalyse, der Wiener Arzt und Schriftsteller Sigmund Freud. Im Jahr 1905 veröffentlichte Freud seineDrei Abhandlungen zur Sexualtheorie, die wohl nicht zu Unrecht zu seinen Hauptwerken gerechnet wurden und die ihn und seine Theorie, die Psychoanalyse, weit hinaus über jene Fachkreise, die Freud zu Lebzeiten eher geflissentlich ignorierten, bekanntgemacht haben.

In denDrei Abhandlungen zur Sexualtheorie erscheint der Kuss nun als »Abweichung in Bezug auf das Sexualziel«. Freud unterscheidet zwischenSexualobjekt undSexualziel. Das Sexualobjekt ist die Person, »von welcher die geschlechtliche Anziehung ausgeht«, während das Sexualziel die Handlung heißt, »nach welcher der Trieb drängt«.[1] Das Küssen zählt für Freud zu den Perversionen. Der gesellschaftliche Normalzustand der Sexualität war zu Freuds Zeiten (und nicht nur da) der heterosexuelle penetrierende Geschlechtsverkehr. Mit dieser angeblichen Normalität des Sexuallebens hat Sigmund Freud gründlich aufgeräumt, und das hat vermutlich nicht weniges zu dem großen Erfolg seines Buches beigetragen. Freud stellt nämlich recht unumwunden fest, dass viele, ja, wer weiß: alle Menschen zu solchen Abirrungen in Bezug aufs Sexualobjekt oder das Sexualziel fähig sind: »[V]iele sind abnorm im Sexualleben, die in allen anderen Punkten dem Durchschnitt entsprechen«, da die Sexualität als »schwacher Punkt« der Kulturentwicklung anzusehen sei.[2] Einige dieser Perversionen haben zudem ihren Ursprung in der frühen Kindheit, so Freud, in der der Mensch noch »polymorph pervers« ist, also zu »allen möglichen Überschreitungen« geneigt ist und eine gewisse Beliebigkeit in Bezug auf Lustobjekte und Sexualziele an den Tag legt.[3] Spätestens mit dieser Feststellung wurden FreudsDrei Abhandlungen skandalfähig, denn der Kindheit, die bis dahin als Zeit