: Zygmunt Bauman
: Izabela Wagner
: Fragmente meines Lebens Die Lebenserinnerungen des bedeutenden Soziologen des Holocaust
: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag
: 9783633779550
: 1
: CHF 32.00
:
: Biographien, Autobiographien
: German
: 302
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Zygmunt Bauman (1925-2017) gilt als einer der bedeutendsten Soziologen der Gegenwart, sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet. Die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts - Krieg, Antisemitismus, Flucht und Emigration - prägten sein Leben.Fragmente meines Lebens verbindet Briefe an seine Töchter und andere Texte mit autobiografischem Charakter zu einer fesselnden Erzählung über Baumans Leben, die erstmals auch tiefe Einblicke in das Privatleben des großen Soziologen gewährt.

»Das erste Leben ist vergänglich. Das zweite - das erzählte - bleibt; und diese Form des Seins ist eine Eintrittskarte in die Ewigkeit. Im ersten kannst du nichts korrigieren; im zweiten - alles.«



<p>Zygmunt Bauman, geboren 1925 in Posen, gestorben 2017 in Leeds, lehrte zuletzt an der University of Leeds. Er gilt als einer der bedeutendsten Soziologen der Gegenwart und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Theodor- W.-Adorno-Preis der Stadt Frankfurt am Main (1998) und den Prinz-von-Asturien-Preis (2013).</p>

4. Januar


Der erste Gedanke beschäftigt sich mit dem Tod. Nicht so sehr, dass er naht (obwohl er mir in dem Moment, als ich meinen Vater überlebte, einen gewaltigen Sprung näher rückte: mein Vater starb an seinem siebzigsten Geburtstag), eher wie ich mich ihm gegenüber verhalten soll, wie ich die Dinge am besten arrangiere, damit ich so agiere, wie ich es mir vorgenommen habe. Ich belüge mich nicht, da bin ich mir sicher, wenn ich mir selbst versichere, dass es nicht wichtig ist, wie lange man lebt, sondern darauf ankommt, die Zeit, die man hat, würde- und bedeutungsvoll zu leben. Der Albtraum ist weniger der Tod selbst als die Art des bedeutungslosen Dahinvegetierens, das die moderne Medizin zwischen den Augenblick, in dem ein Mensch hätte sterben sollen, und den Moment, in dem die Ärzte entscheiden, dass er sterben darf, eingefügt hat – zwischen den menschlichen Tod und den klinischen Tod. Angesichts dieser Optionen sollte ein vernünftiger Mensch sich dafür entscheiden, »zu gehen, wenn er es wünscht«. Der Haken an der Sache ist jedoch, dass man neben einem guten Gespür für die eigene Lage auch eine gehörige Portion Glück benötigt. Ich liebe das Leben: die Menschen, unter denen ich dieses Leben verbringe, und das, was meine – bewusste, aktive – Präsenz dazu beiträgt oder beitragen kann; ich möchte das Leben nichtvorzeitig verlassen. Aber wie soll man den Moment zu fassen bekommen, in dem aus »vorzeitig« ein »zu spät« wird? Und wenn man ihn einmal erfasst hat, wie sich eingestehen, dass man ihn erfasst hat, oder soll man gar die Pascal’sche Wette mit sich selbst eingehen und daran festhalten? Koestler ist das gelungen, Kotarbiński nicht.3 Auf die beste aller Lösungen kann man also nicht wirklich zählen. Es bleibt die zweitbeste: nicht mit den Ärzten kooperieren und sie vor allem nicht darin unterstützen – und sie schon gar nicht dazu einladen –, ihre Kunstfertigkeit, die sie zu perfektionieren suchen, zu demonstrieren: den Gemüseanbau. Wenn eine sogenannte »tödliche Krankheit« auftritt (schon der Begriff ist das Exanthem in der Medizintechnologie: Es geht in erster Linie darum, die Tatsache zu verschleiern, dass die einzig wirklich tödliche und unheilbare Krankheit das Leben selbst ist), sollte man sich ihr nicht widersetzen, sondern ihr, wenn überhaupt, unter die Arme greifen. Ich habe schon seit längerer Zeit verschiedene Beschwerden, von denen manche den Lehrbüchern zufolge von etwas »Ernstem« zeugen – aber solange sie nicht meine Arbeit beeinträchtigen oder meine Alltagsroutine behindern, ist es besser, sie den Ärzten zu verschweigen.

Aber wenn das so ist, dann ist es auch eine Notwendigkeit, die Endlichkeit der Zeit mit einzukalkulieren, um die wir seit unserer Geburt wissen, aber mit der wir uns für den größten Teil unseres Lebens nicht beschäftigen müssen, weil die Aufgaben, die wir uns stellen, so zugeschnitten sind, dass sie bequem in eine »überschaubare Lebensphase« hineinpassen. Nichts in einem so organisierten Leben wird uns darauf vorbereiten, die Abstraktion, die die menschliche Sterblichkeit bedeutet, in ein praktisches Problem zu wenden – wir lernen, unter den Angelegenheiten, mit denen wir uns beschäftigen müssen, auszuwählen, aber diese Auswahl ist frei von dem nagenden Gefühl einer endgültigen Entscheidung; dabei resignieren wir nicht unbedingt, wir schieben auf. Nicht heute, lieber morgen … Morgen erscheint wie eine Ewigkeit, denn jede Aufgabe, die unseren Einsatz erfordert, passt in einige Morgens und Übermorgens. Doch was geschieht, wenn wir den Boden im Sack voller Morgens erkennen? Dann ist die »Auswahl« eine völlig andere, und es bliebe keine Zeit, diese andere Art zu erlernen. Als die Ärzte Stanisław Ossowski4 mitteilten, dass ihm nur wenige Monate Lebenszeit verblieben, gestand dieser weltgewandte Mann, dessen Blick in die Tiefen des Schicksals vordringen konnte und der seinen Gegnern mutig die Stirn bot, ein ihm bis dahin unbekanntes Gefühl von Verlust und Ohnmacht ein. »Ich hatte immer abgewogen, mit welchen Themen ich mich zuerst beschäftige, mit welchen später, was ich zuerst schreibe, was später, welche Bücher ich sofort lese, welche ich für später beiseitelege … Und auf einmal gibt es kein Später mehr, anstelle von ›später‹ ist da jetzt ›nie‹.«5 Die Erfahrung noch der durchdachtesten Entscheidung zwischen »jetzt« und »später« lehrt in keiner Weise, wie man zwischen »jetzt« und »nie« wählen soll.

Ab einem gewissen Alter jedoch – wie meinem – sollte ein denkender Mensch nicht darauf warten, von den Ärzten aufgefordert zu werden, so zu leben,als ob man mit der Wahl zwischen »jetzt« und »nie« konfrontiert wäre. Es ist wichtig, den tröstenden Gedanken hinter sich zu lassen, dass Aufgeschobenes nicht Aufgehobenes bedeutet, und wenn dir das Leben ohne diesen Trost wie ein Albtraum erscheint, dann solltest du dem Albtraum zumindest die Zähne ziehen und seine Klauen stutzen, indem du versuchst, deine Tage so zu strukturieren, dass das »Aufschieben« so wenig wie möglich auf deinem Gewissen lastet. Mit anderen Worten: Erledige nur die wichtigen Dinge, die wichtigsten.

An diesem Punkt ist der erste Gedanke ausreichend gereift, um dem zweiten Gedanken zu begegnen …

Gestern las ich im dritten Band von Maria Dąbrowskas Tagebüchern6 einen Satz, der vor Weisheit nur so flimmert und vor dem die dicken Wälzer angesehener Soziologen verzwergen, lachhaft erscheinen und ein verächtliches Schulterzucken verdienen. (Ist es einfach so aus ihr herausgeplatzt? Ob sie die Wucht darin realisiert hat?) Während eines Besuches in Nieborów, in der Begleitung von Intellektuellen mit »einer jüdischen Herkunft«7, inmitten der heißen Vor-Oktoberphase,8 schreibt Dąbrowska, dass die »Gerechtigkeit es verlangt, anzuerkennen, dass, wenn es irgendeine Form des freien und kreativen Denkens gibt, es unter ihnen zirkuliert. Momentan sind sie die wagemutigsten ›Zerstörer der polizeilich erzwungenen Ordnung‹. Selbst im geselligen Gespräch sind sie interessanter als gebürtige Polen … Persönlich und als Schriftstellerin muss ich sagen, qu’ils ne m’embêtent jamais comme nos gens.9«10 Direkt danach folgt der entscheidende Satz: »All das irritiert die Menschen; als ob jemand, der nicht vollständig zu uns gehört, unser Leben in jeglicher Hinsicht an unserer Stelle leben wollte.«11 Ja, genau darum geht es, das ist der Punkt – der Rest ist ideologische Verbrämung oder Rechtfertigung. Nicht vollständig zu uns zu gehören ist für sich genommen keine Sünde; an unserer Stelle leben zu wollen – ist es auch nicht. Erst die Kombination ergibt ein leicht entflammbares Gemisch.

Dąbrowska war in einer besseren »Position« als viele andere, um dies zu erkennen. Ihr Allosemitismus,12 typisch für eine Adelige,13 gewährte den Juden einen prominenten und unbestrittenen Status als jüdische Schneider, Hausierer, Pachtbauer. Vor der Folie dieses Andersseins waren die Juden wie alle anderen auch. Du kannst ein hervorragender Pachtbauer sein, genauso wie ein hervorragender Aufseher oder Gärtner. Und du kannst sogar ein guter Mensch sein als Pachtbauer oder als Förster – jeder auf seine Weise. Erst der Jude, der aus seiner Rolle fällt, ruft Bedenken und Empörung hervor: der nicht »für sich selbst leben« möchte, zugleich »an unserer Stelle leben« möchte – ein Leben, dasuns vorbehalten ist. Und was, wenn seine schändlichen Mühen auch noch von Erfolg gekrönt sind? Wenn er »herausragend« in der Rolle ist, die zu spielen doch uns bestimmt ist, auf die wir aber aus irgendeinem Grund nicht besonders erpicht sind? Salz in die offenen Wunden des Gewissens streuen …

Der verfluchte Teufelskreis: »Unser Volk« darf nicht empfinden, was es empfindet, und »Ethnien« dürfen sich nicht verhalten, wie sie sich verhalten. Einerseits: So wie Dąbrowskas sozialer Rang ihren eigenen Blick schärfte, machen die gesellschaftlichen Stellungen von »Ethnien« sie zu natürlichen »Zerstörern der Ordnung«, denn zu ihnen wehen die nun giftigen Dämpfe der Fäulnis hinüber,...