: Dana von Suffrin
: Nochmal von vorne Roman
: Verlag Kiepenheuer& Witsch GmbH
: 9783462304442
: 1
: CHF 20.00
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: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 240
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Was hält eine Familie zusammen, in der es nur Fliehkräfte zu geben scheint und alles darauf hinausläuft, dass etwas zu Bruch geht? Am Ende nur die eigene Geschichte. Dana von Suffrin hat einen virtuosen Roman über modernes jüdisches Leben zwischen München und Tel Aviv geschrieben. Der Tod ihres Vaters und die Auflösung seiner Wohnung bringt für Rosa vieles in Bewegung, bei dem sie eigentlich froh war, dass es geruht hatte. Denn die Geschichte der Familie Jeruscher ist ein einziges Durcheinander aus Streitereien, versuchten oder gelungenen Fluchten, aus Sehnsüchten und enttäuschten Hoffnungen und dem vergeblichen Wunsch, irgendwo heimisch zu werden. Nun ist alles wieder da: die Erinnerungen an ihre irrwitzige Kindheit in den 90ern, an das Scheitern der Ehe der Eltern und die Verwandtschaft in Israel, aber auch ihre verschwundene ältere Schwester, mit der sie aus gutem Grund gebrochen hatte.  Kraftvoll und mit großartigem schwarzen Humor erzählt Dana von Suffrin von einer deutsch-jüdischen Familie, in der ein ganzes Jahrhundert voller Gewalt und Vertreibung nachwirkt - und von zwei Schwestern, die sich entzweien und wieder versöhnen, weil es etwas gibt, das nur sie aneinander verstehen.

Dana von Suffrin wurde 1985 in München geboren. Studium in München, Neapel und Jerusalem. 2017 Promotion mit einer Arbeit zur Rolle von Wissenschaft und Ideologie im frühen Zionismus. Ihr Romandebüt »Otto« wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Klaus-Michael-Kühne-Preis (2019), dem Ernst Hoferichter-Preis (2020) und dem Förderpreis des Friedrich-Hölderlin-Preises (2020). Sie lebt in München.

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Mein Handy klingelt, und ohne auf die Nummer zu schauen, weiß ich sofort, um was es geht. Alles ist wie in einer FolgeGute Zeiten, Schlechte Zeiten aus den frühen Neunzigern: Jemand nimmt einen Anruf entgegen, und die Umgebung sieht plötzlich anders aus, nur ein bisschen verwandelt, ohne dass man sagen könnte, wie genau, die Weltkugel verheddert sich für einen Augenblick in ihrer Umlaufbahn, und meine Kollegen im Büro sehen mich fragend an, und dann werden auch sie zu einem Standbild, so als wären wir in einem Werbeprospekt für ergonomische Büromöbel, nur dass niemand lächelt (und dass unsere Bürostühle gar nicht ergonomisch sind, die Universität hat für solche Späße kein Geld), und während ich der russischen oder ukrainischen Frau aus dem Klinikum Harlaching verspreche, ihr gleich den Reisepass meines Vaters zu bringen (sie hat sich schon dreimal dafür entschuldigt, dass seine Unterlagen in der Patienteninformation einfach verschwunden sind, und ich habe schon dreimal gesagt, schon gut, Frau Doktor, obwohl die Krankenschwester oder Oberschwester oder Todesengelschwester sicher kein Doktor ist, und wenn doch, dann so einer wie mein Vater, dessen Zertifikate und Zeugnisse und Urkunden nicht anerkannt wurden vom deutschen Staat). Ich sehe das Telefon an, als hätte es mir noch eine wichtige Mitteilung zu machen, und ich weiß, dass meine Kollegen mich anstarren. Wir alle hassen das Viererbüro, und ich könnte schwören, dass wir nur noch ein Drittel oder ein Viertel von dem arbeiten, was wir vorher erledigt haben in unseren Einzelbüros, denn bei niemandem von uns funktioniert soziale Kontrolle, wir sind auch Monate später noch empört, dass man uns hier eingesperrt hat wie Kinder auf Zimmerarrest, und Natascha isst aus Protest den ganzen Tag Puffreis, den sie in einer Schublade aufbewahrt und der bunte Schlieren auf ihrer grauen Tastatur hinterlässt, und Doktor Magen hat permanent irgendwelche Verabredungen, und Raphi kommt gar nicht mehr, wozu auch, und auch meine Tage hier sind gezählt. Ich halte den Hörer noch ein bisschen in der Hand, bevor ich auflege, denn ich habe überhaupt keine Lust auf die Fragen, die Natascha und Magen mir jetzt stellen werden, sobald sie aus ihrer Büromöbelkatalog-Starre erwachen. Nach ein paar Sekunden lege ich dann doch auf, gehe wortlos zu meinem halben Tisch, packe meine Sachen, überprüfe, ob in meiner Handtasche noch die Unterlagen meines Vaters sind, die ich seit Wochen mit mir herumtrage. Ich gehe zur Tür, und Natascha ruft mir noch wie ein Kind hinterher: Rosa, ist er tot?, ich laufe zur U-Bahn, und unten studiere ich dann die Werbeanzeigen sehr genau, Kieferorthopäden, Pizzerien und Brillengeschäfte, und all diese Werbeanzeigen werden von der einfahrenden U6 Richtung Großhadern eingesaugt wie bei einem großen Reinemachen, erst werden sie zu langen bunten Linien und dann zu einer flatternden Schwärze, denn ich blicke aus dem U-Bahn-Fenster, aus dem es wirklich nichts zu sehen gibt, aber ich benehme mich, als wäre ich auf dem Weg in die Sommerfrische nach Sils Maria, und erst später werde ich begreifen, dass ich in dem Zustand war, den ich mir immer gewünscht habe: an gar nichts denkend, vollkommen leer. Fünfzehn Minuten später in der Trambahn fällt mir ein, dass ich irgendwo gehört habe, dass es nicht ungewöhnlich ist, nach einem Schock in eine Art Unbeweglichkeit zu verfallen, und als ich das denke, ist die Starre natürlich schon vorbei, und ich bin sogar kurz erleichtert, weil die normalen Tricks, mit denen wir uns unsere Existenz zu erleichtern versuchen, bei mir nicht funktionieren oder eben nur ein oder zwei Minuten lang, und wenn das kein Beweis für meine Überlebensfähigkeit ist, dann weiß ich auch nicht.

Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und suche Nadjas Nummer, a