InhaltsverzeichnisTeil 1Stupet – Die Steilklippe
Kapitel 1Ein flugbereiter Falke
Von jeher hatte Großmutter vorausgesagt, dass der Familienbesitz noch vor ihr zugrunde gehen würde. Was sie damit meinte – ob sie sich für unsterblich erklärte oder die Nachfahren verfluchte –, wusste keiner so genau. Vera Lind war nicht umsonst Schriftstellerin, aber von allen Geschichten, die sie jemals erzählt hatte, gab es keine, die Sasha mehr Angst machte.
Eigentlich war sie auf den Namen Alexandra Falck getauft, es war Großmutter, die darauf bestanden hatte, sie Sasha zu nennen, oder als kleines KindSashenka – kleine Sasha –, nach dem russischen Urgroßvater, von dem keiner auch nur ein Foto gesehen hatte.
Von Schlaflosigkeit gequält, war sie früh aufgestanden und hatte sich einen marineblauen Rollkragenpullover und einen Tweedblazer angezogen. Bei unangenehmen Terminen war es wichtig, korrekt gekleidet zu sein. Am Tag zuvor hatte sie herausgefunden, dass einer der Doktoranden am Archiv, das sie leitete, sich Zugang zu den Dateien des Geschäftsberichts der Stiftung aus dem Jahr 1970 verschafft hatte. Das war ein Verstoß gegen die schriftliche Verschwiegenheitserklärung, die er unterschrieben hatte, und Wortbruch war etwas, das sie nicht auf die leichte Schulter nahm.
Die Schnüffelei des Doktoranden war schlimm genug, aber vor allem war sie ein Symptom. Sie konnte es fühlen wie die Luftveränderung, wenn eine Jahreszeit eine andere ablöste. Gut gehütete Geschichten würden jetzt an die Oberfläche kommen.
Was hatte Großmutter damit gemeint, dass Wahrheit und Familienloyalität miteinander in Konflikt standen?
Sasha schloss das Pförtnerhaus, das sie mit ihrer Familie bewohnte, hinter sich ab. Zurzeit war sie allein, die Mädchen waren bei einem befreundeten Paar im Ferienhaus. Mads war auf Geschäftsreise in Asien. Zu Beginn der Ehe hatte er angedeutet, dass es vielleicht ein wenig beengt sein könnte, auf einem Anwesen zu wohnen, das sowohl als Hauptsitz des Familienunternehmens fungierte als auch mehrere Familienmitglieder beherbergte. Sasha war wütend geworden, so wie man es wird, wenn jemand eine offenkundige Wahrheit über etwas anspricht, das man liebt.
Umziehen kam nicht infrage.
Rederhaugen lag eine kurze Bootsfahrt westlich der Hauptstadt. Sasha lief die Ahornallee hinunter zum Wendeplatz. Über Nacht hatte leichter Raureif die Welt in einen blassen Schimmer gehüllt. Ein eisiger Wind strich ihr übers Gesicht und blies direkt durch die Jacke. Sie schüttelte sich unwillkürlich.
Obwohl sie ihr ganzes Leben hier verbracht hatte, wurde sie immer noch oft von Hingabe und Liebe zu diesem Ort überwältigt. Das war ihre Welt. Anwesen und Familie waren eine Einheit, eine Verlängerung von ihr; die glatt geschliffenen, flachen Felsen an der Westseite, wo sie als Kind gebadet hatte, die Stege und Bootshäuser an der Südspitze, die sorgfältig angelegten Rasenflächen, die sich im Sommer smaragdgrün färbten und vom dichten, leise rauschenden Nadelwald abgelöst wurden, der an der Ostseite an einer senkrechten Klippe endete, auf der sich Veras Schreibstube befand.
Vom stillgelegten Springbrunnen auf dem Wendeplatz ging sie einen Kiesweg hinauf zu einem dreistöckigen cremeweißen Steinhaus, das auf einer grasbewachsen