Gibt es Orte, die heiliger sind als andere? Die frühen Christen haben dazu eine recht eindeutige Auffassung: Nur in gläubiger Gemeinschaft erweise Gott seine Präsenz, sie ist nicht an einen bestimmten Ort gebunden. Jesus war auferstanden und in den Himmel aufgestiegen; den Orten, an denen er lebte und starb, maßen sie keine besondere Bedeutung bei. »Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt, da bin ich mitten unter ihnen« heißt es nach Matthäus, Kapitel 18. Man denke auch an die Worte des 354 in Nordafrika geborenen heiligen Augustinus von Hippo, dass Gott überall gegenwärtig sei. In seinenConfessiones schreibt er: »Menschen gehen in die Fremde und bewundern die Höhe der Berge, die mächtigen Wellen im Meer, die breiten Flüsse, den Umfang der Meere und den Kreislauf der Sterne – und gehen doch gedankenlos am Geheimnis ihres eigenen Lebens vorbei.« Neugier, die für die Pilgerreise, wenn auch kaum ausgesprochen, immer eine Rolle spielte, galt Augustinus als eine Untugend.
Der heilige Hieronymus versucht in einem um 395 verfassten Brief dem heiligen Paulinus von Nola von einer Wallfahrt nach Jerusalem abzuraten: »Ich wage nicht, die Allmacht Gottes in enge Grenzen einzuschließen und den auf einen kleinen Landstrich zu beschränken, den der Himmel nicht faßt. Die Gläubigen werden jeder für sich nicht nach der Verschiedenheit ihres Wohnortes, sondern nach dem Verdienste des Glaubens gewogen; und die wahrhaftigen Anbeter beten den Vater weder zu Jerusalem noch auf dem Berge Garizim an. Denn Gott ist Geist, und die ihn anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten. Der Geist weht, wo er will; die Erde ist des Herrn und was darinnen ist … Sowohl von Jerusalem wie von Britannien aus steht der Himmel gleichermaßen offen; dass das Reich Gottes ist inwendig in euch.« Angesichts dieses leidenschaftlichen Plädoyers mag es überraschen, dass der heilige Hieronymus diesen Brief ausgerechnet in Bethlehem schreibt, wo er sich schon seit 386 aufhielt und dann den Rest seines Lebens verbracht hat.
Zumindest im Sinne der Evangelien hätten sich die Gläubigen gar nicht auf den Weg zu heiligen Stätten machen müssen – weder zu in der Nähe ihrer Heimat gelegenen noch ins weit entfernte Heilige Land. Aus diesem Denken heraus hätte es auch keine Kreuzzüge geben müssen, denn wer nun gerade in Jerusalem an der Macht ist, das war für diese Gläubigen ebenfalls nicht von Bedeutung. Doch es kam anders: Ungezählte Pilgerscharen sind nach Jerusalem gezogen – trotz des immer wieder beklagten Volksgewühls und der Zerstreuungen, denen die Menschen vor Ort begegneten.
Egeria war nicht die erste Pilgerin im Heiligen Land. Unter den reichen und zu Askese neigenden Frauen, die sich dorthin begaben, gilt die christliche kaiserliche Schutzpatronin Helena in dieser frühen Phase als Leitfigur, sie machte die Wallfahrtsbewegung gewissermaßen hoffähig. Schon 326/327 bricht sie ins Heilige Land auf, also mehr als ein halbes Jahrhundert vor Egeria. Der Legende nach soll sie Grabungen veranlassen, in deren Zuge Überbleibsel des Kreuzes Christi einschließlich der Nägel, der Ort des Heiligen Grabes sowie der Geburtskirche gefunden werden. Im späten vierten Jahrhundert bestimmt Konstantin der Große einige Örtlichkeiten, die angeblich in Kontakt mit dem Körper von Christus gewesen sein sollen, bevor er in den Himmel aufgestiegen ist, als heilig und veranlasst den Bau der Grabeskirche, der Basilika über der Geburtskirche in Bethlehem sowie der Basilika auf dem Ölberg. Die ursprünglichen Orte des Evangeliums waren verlorengegangen, seitdem Hadrian das alte Jerusalem 135 nach dem Bar-Kochba-Aufstand dem Erdboden gleichgemacht hatte. Es mussten also neue, an bestimmte Orte gebundene Ursprungsmythen geschaffen werden. H