PROLOG
„Alles?“ Jennifer Faulkner bekam weiche Knie. Sie umklammerte den Telefonhörer, sodass ihre Knöchel weiß hervortraten. Ungläubig ließ sie sich auf den nächstbesten Stuhl sinken.
„Die Cottonwood Farm“, sagte der Anwalt mit näselnder Stimme, „und das Geld, das Ihr Großvater kürzlich in der Lotterie gewonnen hat. Er hat alles Ihnen hinterlassen.“
„Ich verstehe.“
Aber Jennifer verstand ganz und gar nicht. Nach dem Tod ihrer Großmutter vor zehn Jahren hatte Grandpa sie fortgeschickt, und seitdem hatte er sich nicht mehr bei ihr gemeldet. Warum hatte er ausgerechnet sie zur Alleinerbin bestimmt?
„Sie werden einen ganzen Batzen Erbschaftssteuern zahlen müssen“, fuhr der Anwalt fort, „trotzdem bleibt mehr als eine Million Dollar für Sie übrig.“
„Eine Million Dollar“, flüsterte Jennifer, während ihr Verstand versuchte, mit diesem Schock fertig zu werden.
Sie wollte das Geld nicht. Sie wollte Grandma Dolly und Grandpa Henry zurück. Sie sehnte sich nach der warmen, gemütlichen Küche der Cottonwood Farm außerhalb von Jester im Südosten Montanas. Als Kind hatte sie stets die Ferien dort verbracht, während ihre Eltern rund um den Globus gejettet waren. Doch selbst eine Million Dollar würde ihr die Großeltern nicht zurückbringen.
„Miss Faulkner? Sind Sie noch dran?“
„Verzeihung. Was haben Sie gesagt?“
„Es wäre gut, wenn Sie herkommen und sich um die Farm kümmern. Außerdem müssten Sie ein paar Papiere unterschreiben. Mein Büro ist in Pine Run, südwestlich von Jester. Kennen Sie den Ort?“
„Ja, zumindest kannte ich ihn vor zehn Jahren.“
„Seitdem hat sich nichts verändert.“ Der Anwalt lachte. „Meine Kanzlei befindet sich direkt gegenüber vom Gericht.“
„Wie war noch mal Ihr Name?“
„Durham. Hank Durham.“
Unwillkürlich musste sie lächeln. In Montana hatten selbst die Anwälte Namen wie Rodeoreiter. Montana. Ihr Zuhause.
Sie verdrängte die nostalgischen Erinnerungen, die in ihr aufstiegen. „Ich weiß noch nicht, wann ich kommen kann. Ich melde mich bei Ihnen.“
Jennifer beendete das Gespräch und lehnte sich zurück. Der Tag hatte eine ganz und gar unerwartete Wendung genommen. Als sie heute Morgen aufgewacht war, hatte ein eisiger Wind den Schnee durch die Straßen Chicagos getrieben. Augenblicklich war ihr klar geworden, dass sie keinen weiteren Tag als Verwaltungsassistentin von Brad Harrison bei Lake Investment Consultants überstehen würde. Sie hatte sich heute krankgemeldet, um ihre Kündigung zu schreiben.
Hank Durhams Anruf hätte zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können. Sie war bereit, Chicago hinter sich zu lassen. Sie schaute sich in dem winzigen möblierten Apartment um. Der Umzug würde ein Kinderspiel werden. Ihr gehörte nichts in dieser Wohnung außer einem Übertopf mit duftenden Narzissen, einem gerahmten Foto ihrer Großeltern an deren vierzigsten Hochzeitstag und dem durchscheinenden Moosachat, den Luke McNeil ihr im Sommer vor zehn Jahren geschenkt hatte.
Luke McNeil.
Er hatte ihr das Herz gebrochen. Ob sie schlief oder wach war: Noch immer sah sie sein Bild vor sich, auch wenn sie ihn seit zehn Jahren weder gesehen noch seine Stimme gehört hatte. Aber wie sollte sie einen Mann vergessen, den sie seit dreiundzwanzig Jahren liebte? Damals war sie fünf Jahre alt gewesen, und er hatte ihr das Leben gerettet.
Sie schloss die Augen und sah die Prärie vor sich, die zwischen der Farm der Faulkners und der McNeils lag. Fast spürte sie wieder die Wärme auf der Haut. Der Sommerwind hatte das dicke Moskitogras gekräuselt und die Köpfe der gelben und rosa Wildblumen nicken lassen. Der Duft von Sonnenhut hatte die Luft erfüllt.
„Wer zuerst beim Bach ist!“, hatte Lukes jüngere Schwester Vickie McNeil gerufen. „Der Verlierer füttert die Schweine!“
Jennifer liebte die kleinen Ferkel der McNeils, aber sie hasste die großen Sauen. Wann immer sie sich ihr näherten, zitterte sie vor Furcht. Vickies Herausforderung verlieh ihr Flügel, und in ihren Turnschuhen jagte sie über den Pfad aus festgestampfter Erde, der zum Bach und dem schmalen Steg führte. Die Sonne brannte ihr ins Gesicht. Als Vickie sie einzuholen drohte, rannte sie schneller. Mit viel Schwung erreichte sie die einfache Holzbrücke, doch