1. KAPITEL
Die meiste Zeit arbeitete Jessica Lewis wirklich gern im Catering. Auch wenn sie auf diesen aufregenden Partys immer nur kellnerte, statt zu feiern. Aber immerhin erlebte sie auf diese Weise die tolle Stimmung bei den Events in ihrer Heimatstadt Royal, Texas. Und bekam, wenn auch immer nur kurz, Einblick in das Leben der Reichen und Schönen. Sie servierte Frauen Drinks, deren Kleider man sonst nur in Fashion-Magazinen oder auf Laufstegen sah. Dabei stellte sie sich gerne vor, wie sie selbst an einem exklusiven Cocktail nippte und den Sonnenaufgang beobachtete, während ihr ein seidenes Kleid um die Beine flatterte.
Vielleicht hatte sie einfach nur eine blühende Fantasie. Aber wer konnte es ihr verübeln, dass sie sich ein besseres Leben vorstellte, während sie hart schuftete?
Heute Abend war ihre Stimmung allerdings nicht so entspannt wie sonst. Seit Jessica auf dem Nachttisch ihrer Mutter den Brief von der Bank gefunden hatte, konnte sie keinen klaren Gedanken fassen.
„Deine Bestellung ist fertig, Jess.“ Eine ihrer Kolleginnen stieß ihr den Ellbogen in die Seite, damit sie zum Ende der Bar sah.
Die Feier fand in einer exklusiven Golfanlage statt, in der selbst die Abschlagbuchten klimatisiert waren. Royals berühmte Familie, die Nobles, hatte die private Luxus-Suite und die angrenzende überdachte Terrasse gemietet. Der Familienclan scheute keine Kosten, um sich auf die Vermählung seines Sohnes, des Bestsellerautors Xavier Noble, mit Ariana Ramos, einer erfolgreichen Schauspielerin und Produzentin mit eigener Lifestyle-Marke, einzustimmen. Weder Xavier noch Ariana waren heute anwesend, denn das Paar lebte in Los Angeles. Doch das hielt die Noble-Familie nicht davon ab, schon im Vorfeld der Hochzeit in ganz Royal Partys zu veranstalten.
Jessica verfolgte gerne die lokalen Prominews. Sie hatte sich sogar darauf gefreut, an diesem Abend zu arbeiten, um endlich die Menschen zu sehen, von denen sie in den Klatschspalten las. Aber die Wahrheit über die finanzielle Lage ihrer Eltern hatte sie so aus der Bahn geworfen, dass sie keinen Funken Interesse für die überprivilegierte Menge aufbrachte, die sich um die Bar tummelte oder sich mit den Golfschlägern abwechselte.
Sie reckte das Gesicht nach oben zur Klimaanlage und hoffte, die kühle Luft würde den Schweiß auf ihrem Rücken trocknen. Der rührte allerdings eher von ihrem eigenen Stress als von den vielen Menschen im Raum.
„Stimmt, danke“, murmelte sie ihrer Kollegin zu und schielte zu dem Tablett mit den fünf Drinks. „Ich kümmere mich sofort drum.“
Der andere Kellner, ein riesiger Kerl namens Matt, der, wenn nötig, auch als Rausschmeißer arbeitete, sah sie jetzt stirnrunzelnd an. „Alles okay?“
Sie packte ihr leeres Tablett fester und hatte wieder die vielen Nullen der Abschlussrate auf dem Schuldschein ihrer Eltern vor Augen, die schon in zwei Monaten fällig war.
Sie war so weit von „okay“ entfernt, dass sie fast lachen musste. Vor allem beim Gedanken, dass ihre Eltern vor fünf Jahren das Haus refinanziert hatten, um ihr bei den College-Gebühren zu helfen. Warum hatten sie ihr nicht gesagt, dass es sie eine verboten hohe Summe kostete, ihr so großzügig unter die Arme zu greifen? Sie war so stolz gewesen, dass sie mit dem Catering-Job ihr Studium in Musiktherapie allein finanzierte. Doch jetzt wünschte sie, sie hätte jeden Cent auf die Schuldentilgung ihrer Eltern verwendet.
Wie sollte sie ihr Studium fortsetzen,