#2Ein Moment, in dem ich Mut entdecke
Noch fünf Springer stehen vor mir. Ich halte mich mit beiden Händen an den Eisenstangen der rutschigen Treppe fest, verlagere mein Gewicht immer wieder vom einen aufs andere Bein. Mein Kopf sucht nach Entschuldigungen, nach Ausreden, Auswegen. Die Trillerpfeife schrillt, nur noch vier, jetzt sogar schon nur noch drei Springer vor mir. Für die einen ist es die Schwimmsportwoche meiner Grundschulklasse, für mich ist es der allergrößte Albtraum. Ich bin acht Jahre alt, ich kann schwimmen, ich kann tauchen. Aber ich sehe keinerlei Nutzen darin, mich aus einigen Metern Höhe – drei, um genau zu sein – ins Nichts fallen zu lassen. Mein Lehrer, Herr Bischoff, sieht das anders. Seit vier Tagen lässt er uns zum Abschluss eines jeden Schwimmtages antreten. Der Klassenliste nach stehen wir an, springen auf seinen Pfiff vom Turm und dürfen uns umziehen gehen, bevor der schwerfällige Omnibus uns vor dem Freibad wieder einsammelt. Ich bin noch kein einziges Mal gesprungen. Und das macht das Ganze noch schlimmer. Statt des Busses warten heute unsere Eltern auf uns, die mit den Lehrkräften ein Grillfest vorbereitet haben, um gemeinsam unsere bestandenen Schwimmabzeichen zu feiern. Das hier ist meine letzte Chance, mir das silberne Abzeichen zu sichern, der Sprung vom Brett ist die letzte Pflichtaufgabe. Unter dem Applaus der Eltern springt Elena ins Wasser. Nur noch zwei Springer vor mir.
Vor zwei Tagen hatte Herr Bischoff meiner Freundin Sarah, die zögernd am Brettrand gestanden hatte, einen Schubs gegeben. Während sie erst überrascht und dann breit grinsend wieder auftauchte und sich von ihm im Anschluss ihr Abzeichen abholte, machte sich in mir nur noch mehr Panik breit. Nur um sicherzugehen, dass er mich nicht ebenfalls über die Kante stoßen könnte, ließ ich mittlerweile das Geländer am Sprungturm nicht mehr los. Ein paar Minuten stand ich so da, hielt aus, dass die Klasse mich erwartungsvoll anfeuerte, nur um danach enttäuscht zu murren. Johannes aus der Parallelklasse hatte gestern laut »Lasst, die springt eh nicht!« gerufen, und sosehr er mir zuwider war, ich brachte es nicht über mich, ihm das Gegenteil zu beweisen.
Stattdessen wartete ich ab, dass Herr Bischoff mich nach einer gefühlten Ewigkeit mit den bekannten Worten »Na, vielleicht wird es morgen was!« vom Turm winkte, und versteckte mich danach sofort in den Umkleiden.
Jetzt winkt er mich zu sich. Pfeift, als würde er selbst daran glauben, dass dieses Signal mich heute tatsächlich dazu bringen wird, dieses Brett in Richtung Wasseroberfläche zu verlassen.
»Komm, Lina, letzte Chance heute!«, sagt er und sieht mich abwartend an. Unten am Beckenrand beginnen die Eltern, zu klatschen. Auf den ersten Blick erkenne ich ein paar der Mütter meiner Freundinnen. Sarahs Mama winkt mir zu, neben ihr sehe ich meine eigene Mutter. Als wir Blickkontakt haben, formt sie ihre Hände vor dem Mund zu einem O und ruft dann: »Na los, du schaffst das!«
Du schaffst das. Das sagt sie nicht zum ersten Mal. Natürlich habe ich ihr davon erzählt, wie viel Angst es mir macht, von diesem Turm zu springen. Und sie hat mehr als einmal geantwortet: »Du schaffst das schon.«
Und wenn ich fragte: »Wie denn?«, antwortete sie: »Augen zu und durch. Einfach springen.«
»Ich kann nicht«, sage ich leise und schüttle den Kopf.
»Komm, geh wenigstens mal zum Brett, damit du siehst, dass es gar nicht so hoch ist.« Herr Bischoff startet eine vorsichtige Verhandlung.Damit du mich schubsen kannst, denke ich.
Wieder schüttle ich den Kopf.
»Augen zu und springen!«, ruft meine Mama.
Jetzt stimmt meine Klasse ein. Da ist es wieder, das Klatschen, das Rufen, das Hoffen.
»Trau dich!«
»Komm schon!«
»Spring einfach!«
Als ich in der Menschengruppe jetzt auch noch meinen Papa erkenne, der sich einen Weg zu den anderen Eltern bahnt und mir zuwinkt, wird mein Gesicht heiß. Und sosehr ich dagegen ankämpfe, schießen mir Tränen in die Augen. Ich weiß damals noch nicht, dass es Scham ist. Das Gefühl, vor den Menschen, die mir in diesem Moment die Welt bedeuten, zu versagen. D