: Rumiz Paolo
: Europa. Ein Gesang
: Folio Verlag
: 9783990371435
: 1
: CHF 15.70
:
: Europa
: German
: 283
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Auf der Suche nach einem verlorenen Europa segeln vier moderne Argonauten über das Mittelmeer, der Hoffnung entgegen. Europa hat seine Ursprünge aus den Augen verloren. Um sie wiederzufinden, machen sich vier Gefährten mit einem alten Segelboot auf den Weg in Richtung Orient, dem Duft von Ginster und Senfblüten folgend. Doch bedrohlich lastet der Himmel über dem Mittelmeer, dem nassen Grab für Migranten. Im Hafen von Tyros flüchtet sich ein syrisches Mädchen an Bord, traumatisiert von Zwangsheirat, Krieg, Vergewaltigung. Ihr Name ist Evropa. Ihre Anwesenheit verbindet die Gegenwart mit der fernen Epoche der Mythen, als Zeus selbst in Gestalt eines Stiers die Königstochter über das offene Meer entführte. Paolo Rumiz' großes modernes Epos über einen Kontinent, der dabei ist, seine Menschlichkeit zu verlieren. Geschrieben im Rhythmus der Wellen, im Gleichklang mit dem Rauschen des Meeres. 'Sturmwind brist auf und die Wellen wachsen, laut fangen die Segel an zu klagen, sich blähen im Wind, während das Bugspriet sich aufbäumt und wieder absinkt in seiner unnachahmlichen Trägheit im Spiel der Wellen.'

Paolo Rumiz, geboren 1947, lebt in Triest und im slowenischen Karst. Segler, Wanderer, Autor eigenwilliger Bucher. Korrespondent aus Krisenregionen, schreibt er seit 1998 Reportagen von seinen Radtouren nach Istanbul, den Bus-, Anhalter- und Fußreisen zu den Rändern Europas oder in die Arktis. Er segelte entlang der alten Handelsrouten Venedigs und verbrachte drei Wochen auf einem einsamen Leuchtturm im Adriatischen Meer.

3.


Die Galionsfigur


Rot flatterte unser Schmetterling, das Gaffelsegel, als wir es setzten, den Bug in den Wind gedreht, in einem Arpeggio aus Windstößen vom Festland her, der Himmel rotierte, bis das Segel voll stand. Wir nahmen Fahrt auf.

Die Petroleumlampe knarzte und flackerte am Gewindering, und über den Rahen und der Saling glitzerten die Sterne wie Edelsteine und zeichneten hell funkelnde Sternbilder.

Mesopotamien, Zehntausende Meilen Wüste, alles hatten wir hinter uns gelassen, die See war stürmisch, Heimweh, herauf- und herunterdekliniert, segelte in vielen Abarten mit uns mit, der Bootsrumpf schlug hart und deutlich hörbar auf die Wellen, das warMoyas Rhythmus, ihre Auf- und Abwärtsbewegung, ein ums andere Mal.

Die Tochter Asiens reiste mit auf dem Boot, im Firmament pflichtete Venus allem bei.

Plötzlich sahen wir gleichauf mit uns ein Motorboot, darin fünf Polizisten mit Maschinenpistolen am Schulterriemen. Sie befahlenHalt, um unser Boot zu perlustrieren. Überall wühlten sie herum, doch was uns überraschte, war, niemand sah zur Galionsfigur ganz vorne am Bugspriet, wo sie sich am Ausläufer festgeklammert hatte. Niemand verstand, dass die Galionsfigur, sie wirkte wie aus Holz, unsere Evropa war.

Nachdem das Polizeiboot wieder abgedreht hatte und endlich von der Finsternis verschluckt worden war, stieß das Mädchen einen herzzerreißenden Schrei aus, vom Rohrblatt in ihrem Hals vervielfältigt, zog er Kratzspuren über die Partitur der Stille.

Wie ein flacher Kiesel bei gespannter Schleuder flog ihr lang gezogener modulierter Schrei von jenseits der Strände des Libanon und seinen schneebedeckten Gebirgen bis nach Syrien und zum Euphrat.

Zurück lasse ich