: Gene Wolfe
: Der fünfte Kopf des Zerberus Novellen
: Memoranda Verlag
: 9783910914070
: 1
: CHF 15.20
:
: Science Fiction
: German
: 296
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Auf den Zwillingsplaneten Sainte Croix und Sainte Anne haben britische Siedler die ehemals französische Kolonie erobert. Doch was ist mit den Ureinwohnern geschehen, die hier einst lebten? Einige von ihnen scheinen sich ins unerforschte Hinterland zurückgezogen zu haben. Wolfe verknüpft auf brillante Weise drei Handlungsfäden miteinander: Der Sohn eines Wissenschaftlers - und Bordellbesitzers - kommt dem bizarren Geheimnis seiner Herkunft auf die Spur; ein junger Aborigine begibt sich auf eine mystische Traumreise und muss im Kampf gegen seinen verlorenen Bruder seine Identität finden; ein Anthropologe berichtet in nur bruchstückhaft überlieferten Erinnerungen von seiner Begegnung mit den Ureinwohnern - aber ist er wirklich, wer er zu sein vorgibt? Die Einstiegsdroge in das Werk eines Autors, der in der ganzen englischsprachigen Literatur nicht seinesgleichen hat.

Gene Wolfe (1935-2019) ist der große Stilist der angloamerikanischen Science Fiction. Sein apokalyptischer Zyklus 'Das Buch der neuen Sonne' gilt als unerreichter Höhepunkt des Genres. Für sein Lebenswerk wurde er mit dem World Fantasy Award und dem SFWA Grand Master Award ausgezeichnet sowie in die Science Fiction Hall of Fame aufgenommen.

Wenn im schneebedeckten Efeugerank

Das Käuzchen über dem Wolfe klagt,

Der die Jungen der Wölfin frisst.

Samuel Taylor Coleridge,

Die Ballade vom alten Seemann

Als ich ein Junge war, mussten mein Bruder David und ich immer früh zu Bett gehen, ob wir nun müde waren oder nicht. Besonders im Sommer kam die Schlafenszeit oft vor Sonnenuntergang; und weil unser Zimmer im Ostflügel des Hauses lag, mit einem breiten Fenster, das auf den Innenhof hinausging und somit nach Westen, drang das grelle rosafarbene Licht manchmal noch stundenlang herein, während wir dalagen und zu dem verkrüppelten Äffchen meines Vaters hinausstarrten, das auf einer Balkonbrüstung saß, von der der Rost abblätterte, oder einander mit lautlosen Gesten Geschichten erzählten, von einem Bett zum anderen.

Unser Schlafraum lag im obersten Stockwerk des Hauses, und vor unserem Fenster war ein schmiedeeisernes Gitter befestigt, das wir nicht öffnen durften. Vermutlich wurde befürchtet, dass ein Einbrecher an einem regnerischen Morgen (nur dann konnte er hoffen, das Dach, auf dem so etwas wie ein Lustgarten eingerichtet war, leer vorzufinden) ein Seil herablassen und so in unser Zimmer eindringen könnte, falls das Gitter nicht geschlossen war.

Dieser hypothetische und äußerst beherzte Dieb hätte es natürlich nicht nur auf uns abgesehen. Kinder waren, Jungen wie Mädchen, in Port-Mimizon außerordentlich günstig zu haben; tatsächlich war mir einmal erklärt worden, dass mein Vater, der früher mit ihnen gehandelt hatte, dies inzwischen wegen der schwachen Nachfrage unterließ. Ob das nun der Wahrheit entsprach oder nicht, jeder – oder fast jeder – kannte einen Experten, der das Gewünschte beschaffen konnte, in angemessenem Rahmen und zu einem niedrigen Preis. Diese Männer hatten die Kinder der Armen und der Sorglosen im Blick, und sollte es jemanden, sagen wir, nach einem braunhäutigen, rothaarigen kleinen Mädchen verlangen oder nach einem, das drall war oder lispelte, nach einem blonden Jungen wie David oder einem blassen, braunhaarigen, braunäugigen wie mir, konnten sie dergleichen innerhalb weniger Stunden besorgen.

Ebenso wenig würde uns der imaginäre Einbrecher aller Wahrscheinlichkeit nach eines Lösegelds wegen entführen, obwohl manche Leute meinen Vater für unermesslich reich hielten. Dafür gab es mehrere Gründe. Die wenigen Menschen, die wussten, dass mein Bruder und ich überhaupt existierten, wussten auch – oder hatten jedenfalls Grund zu der Annahme –, dass wir unserem Vater vollkommen gleichgültig waren. Ob das der Wahrheit entsprach oder nicht, vermag ich nicht zu sagen; ich habe es auf jeden Fall geglaubt, und mein Vater gab mir nie den geringsten Anlass, daran zu zweifeln, obwohl mir der Gedanke, ihn zu töten, damals noch nicht gekommen war.

Und falls diese Gründe noch nicht überzeugend genug ausfielen: Jeder, der etwas von dem Milieu verstand, dessen Dreh- und Angelpunkt mein Vater vielleicht geworden war, musste sich darüber im Klaren sein, dass dieser sich, gäbe er einmal so leichtfertig Geld heraus, der Gefahr zahlloser ruinöser Angriffe aussetzen würde; war er doch bereits gezwungen, die Geheimpolizei mit enormen Summen zu bestechen. Das mag der eigentliche Grund g