Kapitel 1
Lübeck, Juli 1872
Rosa Quast drehte sich vor dem großen Standspiegel in ihrem Zimmer hin und her und betrachtete sich ausgiebig. Das, was die Reflexion ihr zurückwarf, schien ihr zu gefallen, denn sie lächelte ihrem Bild zufrieden entgegen.
»Was meinst du, Anna? Dieses Kleid steht mir doch ausgezeichnet. Rosé ist meine Farbe. Mein Vorname wurde nicht ohne Grund gewählt. Findest du nicht auch, dass die Turnüre eine schlankere Silhouette macht als die unpraktische Krinoline?« Sie strich mit den Händen an ihrer schmalen Taille entlang. Das Korsett hatte sie von Minna, ihrer Zofe, extra eng schnüren lassen, damit ihre Figur diese wespenförmige Form erhielt, die als chic erachtet wurde.
Das Kleid bauschte sich unterhalb ihres Rückens, vorn fiel es glatt nach unten. Es war ein neuer Schnitt, der in der letzten Zeit immer mehr in Mode kam, und Rosa war eine der ersten jungen Frauen, die sich diese Kreation leisten konnten. »Papa hat keine Kosten und Mühen gescheut und mir freie Hand bei der Schneiderin gelassen! Ist das nicht lieb von ihm? Er ist so stolz, dass ich die Reifeprüfung bestanden habe.« Sie drehte und wendete sich vor dem Spiegel.
»Dass du überhaupt atmen kannst«, bemerkte Anna mit einem Lächeln und bestaunte die schlanke Taille, die ein wenig unnatürlich wirkte, wie sie fand. »Hast du keine Angst um deine Gesundheit?«
Rosa winkte ab. »Ach, papperlapapp. Eine Frau von Welt muss schlank und elegant gekleidet sein, wenn sie einen passenden Verehrer finden will.«
Anna nickte zustimmend und blickte an sich herab. Sie trug ein älteres Tageskleid mit einer Tunika darüber, das Korsett locker geschnürt. »Ich lege keinen Wert auf eine Wespentaille. Allerdings will ich auch keinen der höheren Söhne beeindrucken«, fügte sie schnell hinzu, als sie sah, wie ihre Freundin eine Augenbraue hob. Rosa schien besessen davon, die schlankste Frau der Stadt zu sein. Als ob ihr das mehr Verehrer einbringen würde ... Anna schüttelte den Kopf. Sie selbst wollte um ihrer selbst willen geliebt werden, nicht weil sie so eng geschnürt war, dass sie beinahe keine Luft bekam.
»Gefällt es dir nicht?«, fragte Rosa überrascht.
»Doch, wie kommst du darauf?«
Sie wagte nicht, Rosa zu verärgern, was leicht der Fall war, denn die Freundin bekam manchmal ein Wort in den fa