: Alexander Pechmann
: Die Bibliothek der verlorenen Bücher
: Schöffling& Co.
: 9783731762461
: 1
: CHF 15.80
:
: Gemischte Anthologien
: German
: 240
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Gibt es irgendwo auf der Welt eine Bibliothek, in der alle Bücher versammelt sind, die nie erscheinen konnten? Was bringt Schriftsteller dazu, ihre Werke zu verbrennen? Und wie kann es passieren, dass Manuskripte geklaut werden und für immer verschwinden? Mit literarischem Spürsinn lässt Alexander Pechmann sie in diesem Buch entstehen und erzählt von all den Werken, die durch Unfälle und Zufälle, mit Absicht oder sogar aus Versehen vernichtet wurden oder verloren gingen. In zahlreichen Anekdoten werden ihre Schicksale und Geheimnisse hier erzählt: von Dostojewskij bis Flaubert, von Thomas Mann bis Balzac, von Joyce bis Kafka. In der Bibliothek der verlorenen Bücher sind auch die Texte verwahrt, die niemals geschrieben wurden oder von denen niemals jemand erfahren sollte. Wie auf einer kleinen Abenteuerreise durch die Literaturgeschichte und Bücherwelt begegnet man einer bizarren Bücherkarawane im alten Persien,  einer barbarischen Schreibmaschine, Hemingways Reisetasche, Kammerjungfern und Bauchrednern, Puschkins Hasen und Herman Melvilles verlorener Insel.

geboren 1968 in Wien, studierte Literatur- und Sozialwissenschaften. Zahlreiche Veröffentlichungen als Autor, Übersetzer und Herausgeber, u. a. zu Mary Shelley, Mark Twain, Herman Melville.

Mary und Shelley

Im August des Jahres 1814 beschloss ein junger, unglücklich verheirateter Dichter namens Percy Bysshe Shelley, die anarchistischen Theorien seines Mentors William Godwin, die sich gegen Kirche, Staat und Ehe richteten, wörtlich zu nehmen. Er entführte Godwins Tochter Mary und floh mit ihr und ihrer Stiefschwester Claire Clairmont aus England. Die abenteuerliche Reise führte die drei Ausreißer quer durch das von den Napoleonischen Kriegen verwüstete Frankreich in die Schweiz, wo der idealistische Percy ein »Paradies in den Bergen« zu finden hoffte. Er schrieb seiner Ehefrau einen freundlichen Brief, in dem er sie einlud, ihm und seiner Geliebten zu folgen. Ein verwegener Plan, der sich als unrealisierbar erwies. Es fehlte an den nötigen Geldmitteln, denn niemand hatte bedacht, dass der Eingang ins Paradies nicht umsonst war. Enttäuscht verließ das Trio die erhabene Alpenlandschaft und machte sich niedergeschlagen auf den strapaziösen Heimweg.

Das erste Buch Mary Godwins, »History of a Six Weeks’ Tour« (»Flucht aus England«), berichtete von dieser ungewöhnlichen Reise, als sei sie ein munterer Spaziergang gewesen. Aus den Tagebüchern erfahren wir allerdings einiges über die tatsächlichen Umstände: schmutzige Unterkünfte, in denen Ratten herrschten, primitive Landbewohner, endlose Fußmärsche in dafür völlig ungeeigneten Stadtkleidern. Immerhin sollte die bald so erfolgreiche Autorin viele der Erfahrungen in ihren Werken nutzbar machen. Als sie mit Claire und Percy durch Frankreich und Deutschland in die Schweiz wanderte, arbeitete sie bereits an einer ersten Erzählung mit dem Titel »Hate« (»Hass«). Inspiriert wurde sie möglicherweise durch eine Begegnung mit drei Studenten der Straßburger Universität, die Mary in den Tagebüchern festgehalten hatte: »Schwitz, ein recht gutaussehender, gutgelaunter junger Mann; Hoff, eine Art unförmiges Wesen mit schweren, hässlichen, deutschen Gesichtszügen; und Schneider, der beinahe ein Idiot war und dem seine Kameraden ständig tausenderlei Streiche spielten.«

Die Erzählung gilt bis heute als verschollen. Genauso wie Marys frühe Schreibversuche, die sie zusammen mit einigen Briefen in einem Holzkästchen aufbewahrte. Dieses Kästchen wird in Percy Shelleys Tagebuch erwähnt. Am 2. August 1814 sahen Mary und Shelley die darin enthaltenen Papiere gemeinsam durch, und Mary versprach ihrem Geliebten, er dürfe all ihre Arbeiten lesen und studieren. Percy verschob die aufmerksame Lektüre auf einen späteren Zeitpunkt, doch weder die Texte noch das Holzkästchen werden je wieder erwähnt. Offenbar wurde alles in dem Pariser Hotel de Vienne vergessen. Ein schmerzlicher Verlust für eine junge Schriftstellerin, doch Mary verlor ihr Leben lang kein Wort über diesen Vorfall.

Percy B. Shelley erkannte die Begabung seiner künftigen Ehefrau, die als Mary Shelley, Autorin des »Frankenstein«, berühmt werden sollte. Er förderte sie, so gut er konnte, und ermunterte sie unablässig zum Schreiben. Er selbst war seit seiner Kindheit von Literatur und phantastischen Einfällen durchdrungen. Schon als Schüler hatte er Gedichte, Pamphlete und ganze Bücher geschrieben und veröffentlicht. Der für sein Aufbegehren gegen Kirche und Staat und seine anarchistischen und atheistischen Überzeugungen geschmähte Shelley war auch ein begeisterter Leser von Schauerromanen. Früh versuchte er seinen Idolen Charlotte Dacre und Charles Brockden Brown nachzueifern. Shelleys Cousin Thomas Medwin erinnerte sich später, man habe im Winter 1809/10 gemeinsam an ei