PRAKTIZIERE RADIKALE SELBSTLIEBE
Kennst du Charlie Chaplins StummfilmModerne Zeiten? Er erzählt von Charlie, einem einfachen Mann, der versucht, in einer modernen Fabrik mitzuhalten und zu überleben. In der Fabrik arbeiten monströse, für die Betrachter*innen regelrecht absurde Maschinen. Charlie steht am Fließband. Er muss immer schneller arbeiten, kommt nicht mehr hinterher, und irgendwann wird er verrückt. Der Film kritisiert die Industrialisierung und die damit einhergehende Entmenschlichung der Arbeit. Das Individuum wird uninteressant. Auch wenn heutzutage immer mehr menschenfreundliche Ansätze in der Bildung, der Wissenschaft und der Unternehmenskultur auftauchen, halte ich Chaplins Film nach wie vor für hochaktuell. Er illustriert, warum wir uns überhaupt über Selbstliebe unterhalten müssen. Denn auch wenn eine primär leistungsorientierte Gesellschaft ohne Zweifel Fortschritt und Wohlstand hervorbringt, führt sie, wenn sich ihre Dynamik verselbstständigt, zur systematischen Selbstentfremdung des Menschen.
Wie hast du zum Beispiel den heutigen Tag bis hierher erfahren? Hast du achtsam von innen nach außen gelebt, oder hat das Außen deinen Tag bestimmt? Konntest du dich frei und authentisch ausdrücken oder hast du hauptsächlich auf Erwartungen und Verpflichtungen seitens deiner Umwelt reagiert? Die meisten Menschen stehen unter einem immensen Dauerdruck, derartige Überlegungen, den Gedanken, man könne tatsächlich eine Wahl haben, können sie nur noch als realitätsfern abtun. Das kollektive Hamsterrad hat eine so wahnwitzige Schwungkraft entwickelt, dass wir nicht einmal mehr dazu kommen, seinen Sinn grundsätzlich zu hinterfragen. In den letzten zwei Jahrzehnten sind diese Wirkmechanismen noch einmal enorm potenziert worden. Das digitale Zeitalter konfrontiert uns alle mit exponentiellen Wachstumsdynamiken und der damit verbundenen atemberaubenden Entwicklungsgeschwindigkeit. Die sozialen Medien erhöhen für die meisten von uns den Stress, in dem sie uns mit stetig neuen Optimierungstrends konfrontieren und gleichzeitig unser Leben dem Vergleich mit dem Leben Millionen anderer Menschen aussetzen (von denen die meisten immer fitter, schlauer und erfolgreicher als wir zu sein scheinen).
Im Grunde genommen ist es nur rhetorisch, wenn ich frage: Dienen all diese Errungenschaften wirklich unserem Wohlergehen oder bedienen wir ein selbstgeschaffenes Monster der Geschäftigkeit und des Wachstumswahns? Wissen wir noch oder wussten wir je, um was es uns bei all dem wirklich geht? Unser Selbstwertgefühl ist massiv an äußere Rückmeldungen gekoppelt: Was machen die anderen? Wofür bekomme ich die meisten Likes? Welchen Trend darf ich auf gar keinen Fall verpassen? Bis auf wenige starke Naturen, die diesem hypnotischen Sog widerstehen können, entfalten wir uns nicht mehr natürlich, also von innen nach außen, sondern reagieren automatisch, von außen nach innen. Was wir wirklich wollen und brauchen, um glücklich zu sein, verblasst und ist irgendwann gar nicht mehr abrufbar. Berufliche Erwartungen, private Verpflichtungen, mediale Reize, massive Werbung – der ständige Handlungsbedarf an der Peripherie führt zu einer Vernachlässigung unseres sinnstiftenden Innenraums. So entsteht ein wesentliches Vakuum: Wir wissen, was wir zu erfüllen haben, aber nicht, was uns erfüllt.
Es gibt zwei Ausbruchsmöglichkeiten aus diesem Gefängnis der Zwänge. Die eine wird, wie weiter oben schon beschrieben, unfreiwillig herbeigeführt, zum Beispiel durch eine Krise. Wenn wir den Job verlieren, der Partner oder die Partnerin uns sitzen lässt, wir körperlich schwer erkranken oder depre