Prolog
Genfersee, Sommer 1882
Milchig weiß lag der Nebel über dem See. In kleinen Wölkchen löste er sich von der Oberfläche, stieg auf und legte ein spiegelglattes Türkis frei. Barfuß lief Helen durch das noch nasse Gras, die Tautropfen kitzelten zwischen ihren nackten Zehen. In ein paar Stunden würde die Sonne jeden einzelnen Halm getrocknet haben. Schon jetzt verhieß der wolkenlos blaue Himmel einen weiteren heißen Sommertag. Erst abends, wenn sich erneut die schwüle Hitze vor den schneebedeckten Berggipfeln staute, würde es vielleicht ein Sommergewitter geben. Doch jetzt war die Luft frisch und klar. Es duftete nach geschnittenem Grün, denn gestern hatten der Bauer und seine Knechte die Wiese neben dem Garten mit den Sensen gemäht. Die Haufen hingen nun auf Holzgerüsten zum Trocknen und verströmten den Geruch nach Sommer und Unbeschwertheit.
Helen liebte die Sommermonate am Genfersee. Wenn es nach ihr ginge, würde sie das ganze Jahr an diesem malerischen Ort verbringen. New York mit seinen Wolkenkratzern, engen Straßenschluchten, lärmenden Fabriken und dem Sprachenwirrwarr war ihr ein Gräuel. Es war ihr völlig unverständlich, warum jemand freiwillig Europa verließ, um auf der anderen Seite des Atlantiks ein neues Leben anzufangen. In der Schweiz oder in Frankreich gab es doch alles, was man zum Glücklichsein brauchte.
Helens Unverständnis war der Tatsache geschuldet, dass sie auf die Butterseite des Lebens gefallen war. Sie war als erstes Kind in die wohlhabende Familie Lori geboren worden. Ihr Vater Pierre Lori war einer der erfolgreichsten Tabakproduzenten Amerikas. Er besaß Häuser in New York, Genf und Paris. Armut oder Hunger waren Fremdwörter für Helen. Ihre Sorgen galten dem verhassten Lateinunterricht und den Benimmstunden bei Marie Fornet, ihrer strengen Kinderfrau. Die Erzieherin bemühte sich vergebens, aus der wilden Zwölfjährigen eine salonfähige junge Frau zu formen.
Gestern war Fräulein Fornet für eine Woche zu ihrer Familie nach Lausanne gefahren, um ihre Schwägerin im Wochenbett zu unterstützen. Das bedeutete sieben ganze Tage ohne lästige Regeln. Helen musste keine Bücher auf dem Kopf tragen und damit aufrecht durch den Raum schreiten, sich nicht um langweilige Gesprächsthemen bei Tisch Gedanken machen und sich auch nicht mit den verhassten Handarbeiten abquälen, die ihr ohnehin nie gelangen. Sticken war ihr ein Gräuel. Neulich sollte sie einen Hirsch auf einen Kissenüberzug sticken, und am Ende hatte das Tier wie ein fettes Walross mit Geweih ausgesehen. Fräulein Fornet hatte den Überzug erst vorgestern zu den Spenden für ein Seniorenhaus gegeben. Jetzt musste sich ein armer alter Mensch Gedanken darüber machen, auf welch seltsamem Tier er seinen Kopf bettete. Es wäre wohl besser gewesen, der Überzug wäre in ein Gefängnis gegangen.
Helen lief Richtung See. Sie konnte den ganzen Tag nach ihrem Geschmack gestalten. Ihre Mutter war mit Helens jüngeren Brüdern Philipp und André beschäftigt. Die beiden brauchten Nachhilfeunterricht in Französisch und mussten sich im Tennis und Reiten bewähren. Während Helen schon früh ihre Liebe zur Sprache ihrer Mutter entdeckt hatte, taten die Brüder sich schwer mit ihr. André fand Französisch sei eine Hals-Nasen-Krankheit, und Philipp beschäftigte sich lieber mit den großen deutschen Dichtern, Goethe und Schiller.
Heute wollte Helen ihre neue Freiheit mit einem Abstecher zu ihrer Nachbarin, Baronin Julie von Rothschild, beginnen. Marie Fornet fand, dass die exzentrische Baronin, die allein lebte und unverheiratet war, kein geeigneter Umgang für Helen war. Zum Glück sahen sowohl Susanna Lori als auch Helens Vater das weniger streng. Die beiden hatten die Werte der Neuen Welt inhaliert. Den Traum, vom Tellerwäscher über Nacht zum Millionär zu werden, fanden sie keineswegs verwerflich. Und w