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Wylie und ich rasen die Treppe zum zweiten Stock hoch. Als wir oben angekommen sind, keuchen wir beide, als ob wir bereits eine Stunde Balletttraining hinter uns hätten. Dabei hat der Unterricht noch gar nicht angefangen. Also, hoffentlich jedenfalls.
»Sind wir im kleinen Saal oder im Eckstudio?«, stoße ich atemlos hervor.
»Eckstudio, glaub ich«, sagt Wylie. »Mist, die Tür ist zu. Die sind alle schon drin.« Er hastet an mir vorbei zum Ende des Ganges.
Wir haben beim Frühstück total die Zeit vergessen. Daran ist Wylie schuld, der zum Essen unbedingt nach draußen gehen wollte. Obwohl es erst Ende März ist und eigentlich noch viel zu kalt, um im Freien zu frühstücken.
Weil wir als Einzige draußen saßen – kein anderer war so bescheuert wie wir –, haben wir nicht mitbekommen, wie die Mensa immer leerer wurde. Als Wylie auf die Uhr schaute, war es kurz vor acht. Und um acht beginnt der Unterricht.
Jetzt haben wir drei Minuten Verspätung. In meiner früheren Schule wäre das kein Problem gewesen, da kamen sogar die Lehrer zu spät zur ersten Stunde. Aber in der Royal Ballet School ist Unpünktlichkeit ein absolutes No-Go. Die Tage sind hier so vollgestopft mit Tanzstunden, Theorie, Kraftsport und den normalen Fächern, wer das alles schaffen will, muss superdiszipliniert und organisiert sein.
Zu allem Überfluss haben wir heute in der ersten Stunde auch noch eine neue Lehrerin. Mrs Cholewa wird unsere Klasse künftig in Pas de deux unterrichten. Früher war sie Erste Solistin in der Semperoper in Dresden. Vor ein paar Jahren hat sie einige Monate lang in der Royal Opera in London getanzt – Sasha und Yue haben sie damals sogar gesehen.
Mrs Cholewa ist schon länger an der Schule, aber für uns ist sie neu, und obwohl Wylie und ich genau wissen, dass der erste Eindruck der entscheidende ist, kommen wir zu spät zu ihrem Unterricht.
Wylie öffnet behutsam die Tür, ohne vorher anzuklopfen. Vielleicht können wir uns irgendwie unbemerkt in den Raum schleichen.
Doch nun sehe ich, dass Wylie wie angewurzelt auf der Schwelle stehen bleibt.
Über seine Schulter werfe ich einen Blick in den lichtdurchfluteten Saal mit den hohen Fenstern. Keine Mrs Cholewa, keine Klasse.
»Was wollt ihr denn hier?«, fragt eine schneidende Stimme.
Wylie öffnet den Mund, aber es kommt kein Laut heraus. Und jetzt erst bemerke ich Mr de Waal, unseren Lehrer für Klassisches Ballett, der neben der Musikanlage steht.Die Peitsche, wie er in der Schule auch genannt wird. Mr de Waal ist nämlich superstreng. Er hat ein schmales Gesicht mit hoher Stirn und scharfe Falten neben dem Mund. Sein Körperbau ist athletisch, man sieht Mr de Waal an, dass er sein Leben lang getanzt hat.
»Ist Mrs Cholewa nicht hier?«, frage ich an Wylies Stelle. Eine bescheuerte Frage, die Antwort ist ja wohl offensichtlich.
»Die sind in den gelben Saal umgezogen.« Mr de Waal wirft einen Blick auf seine Uhr. »Wenn ihr pünktlich gewesen wärt, hättet ihr es mitbekommen.«
»Alles klar«, sage ich und greife an Wylie vorbei zur Türklinke, um die Tür so schnell wie möglich wieder zuzuziehen. Mr de Waal ist mit Abstand der unangenehmste Lehrer in der Juni