Kapitel 1
Wäre es nicht Sophia Barrett gewesen, deren Hochzeit bevorstand, Joy Beckman hätte nicht im Traum daran gedacht, am nächsten Morgen ein Flugzeug zu besteigen.
Die Aufzugtüren glitten auf und sie setzte ihren Fuß auf das glatt polierte Laminat des Gangs. Wenn sie schon die Stadt verlassen musste, dann wollte sie wenigstens sichergehen, dass ihre Mutter bestmöglich versorgt wurde, während sie sich nach ihrem Hüftbruch von der Operation erholte. Zum Glück genoss diese Rehaklinik hier in New Port Richey einen guten Ruf.
Leise spielte ein RadioRocking Around the Christmas Tree, als Joy zum Zimmer ihrer Mutter ging. Sie lächelte den Patientinnen und Patienten zu, die in ihren Rollstühlen den Gang auf und ab fuhren, und die dankbaren Blicke, mit denen sie reagierten, ließen ihr Herz ein ganzes Stück schwerer werden. Wie gerne hätte sie sich zu ihnen gesetzt und sich mit jedem Einzelnen von ihnen unterhalten, besonders mit denen, deren Familien weit weg lebten, doch es fehlte ihr einfach die Zeit. Natürlich ging ihr die Einsamkeit der Leute zu jeder Zeit des Jahres nahe, doch an den Advents- und Weihnachtstagen sollte definitiv kein Mensch allein sein.
Heute aber galt ihre ganze Aufmerksamkeit ihrer Mutter. Joy hatte sich davor gefürchtet, sich von ihr zu verabschieden, auch wenn es nur für zwei Wochen war. Sie hoffte inständig, dass es ihr gelang, ihre Stimme fest genug klingen zu lassen, um ihr etwas vorzumachen. Falls ihre Mutter einen ihrer schlechten Tage hatte, würde das allerdings sowieso keine Rolle spielen.
»Klopf, klopf.« Joy warf einen vorsichtigen Blick durch die geöffnete Zimmertür. Der Raum war klein, aber gemütlich eingerichtet und an den blassblauen Wänden hingen Fotos wunderschöner Gärten in zarten Pastellfarben. Ein Lufterfrischer verbreitete einen angenehmen Lavendelduft.
Linda, die Krankenschwester ihrer Mutter, notierte gerade die aktuellen Daten für die Patientenakte. Auf Joys Gruß hin blickte sie auf. »Guten Tag, Frau Dr. Beckman«, grüßte sie leise.
Joy trat ans Bett heran und warf einen vorsichtigen Blick auf ihre schlafende Mutter, die so zerbrechlich aussah unter dem hellrosa und gelb karierten Quilt, den sie vor Jahren selbst geknüpft hatte. Frisch und lebendig wie die Farben dieser Decke war auch sie, Betty Beckman, einmal gewesen, mit ihren langen, braunen Locken, die im Sonnenlicht schimmerten, und den grünen Augen, die stets eine geheimnisvolle Freude ausgestrahlt hatten. Nun aber hingen ihr die grauen Haare über die Schultern wie welkes Laub, gut gekämmt zwar und sauber, doch ohne den früheren Glanz. Ihre Wangen waren eingefallen; sie hatte enorm an Gewicht verloren in den sechzehn Monaten seit ihrer Alzheimer-Diagnose.
Und dann war da dieser Ausdruck in Bettys Blick. Während sie Joy früher voller Liebe angesehen hatte – ihre Tochter, deren Geburt sie vor zweiundvierzig Jahren nach so vielen Fehlgeburten wie ein Wunder