Kapitel 1
Basel, 1852
Still und verlassen lag der Gemüsegarten im Hof der Baseler Mission. Die gepflegten Beete hatten für dieses Jahr ausgedient. Nur die Apfelbäume im hinteren Teil des Geländes trugen noch ihre Früchte. Vom Fenster seiner Kammer im zweiten Stock schaute Johann Straub über den Hof, ohne daß seine Gedanken ein bestimmtes Ziel verfolgten. Der Missionsschüler mochte die den Herbstfarben eigene Melancholie.
Im Garten gab es jetzt immer weniger zu tun. Wie hatte er es doch im Frühjahr und Sommer genossen, die frische, dunkle Erde mit den Händen zu greifen und ihren schweren Duft einzuatmen. Nun stieg dieser Duft mit letzter Kraft in den gedrungenen Stämmen der Bäume empor, hinauf in die rotgoldenen Äpfel, die ihn bewahren und noch auf dem Weihnachtsteller verströmen würden.
Das Knarren einer Tür unten im Hof ließ ihn aufschrecken. Die Küchenmagd trat aus dem Gebäude. Unter dem Arm einen großen Korb, stapfte sie über den Kiesweg. Wie ertappt wandte sich Johann vom Fenster ab. Hier gab es kein müßiges Herumstehen und Aus-dem-Fenster-gaffen. Wann immer jemand dabei beobachtet wurde, traf ihn ein strenger Verweis von Pfarrer Josenhans, der als Inspektor die Anstalt leitete.
Johann setzte sich wieder an sein Schreibpult, um an der Predigt weiterzuarbeiten, die er am Sonntag vorzulegen hatte. Sein Thema stammte aus dem Johannes-Evangelium: »Von der Verwandlung, die jeder erfährt, der Jesu begegnet.« Es war die Geschichte von dem Blindgeborenen, dem Jesus die Augen aufgetan und der daraufhin vor aller Welt Zeugnis für Gottes Sohn ablegte. Zu Sehenden werden die Blinden, wenn sie das Christentum annehmen, blind aber bleiben diejenigen, die es verwerfen, obwohl sie sehend sind. Diese doppelte Deutung von »sehend« und »blind« galt es klar herauszuarbeiten. Schwächen in der Argumentation riefen bei Inspektor Josenhans harsche Kritik hervor, war doch die Homiletik sein spezielles Steckenpferd.
Die Predigtübungen standen im Mittelpunkt der Ausbildung. In den zwei Jahren, die Johann nun an der Schule war, stellten sie höchste Anforderungen an ihn, mehr noch als andere Unterrichtsfächer wie Englisch, Latein und Griechisch. Er und seine Mitschüler mußten sich gehörig anstrengen, das umfangreiche Pensum zu schaffen.
Sie alle waren von ihrer Berufung zum Missionsdienst überzeugt. Das allein reichte jedoch nicht. Sie mußten nicht nur den Glauben haben, sondern auch die Kraft, ihn gegen die Ungläubigen zu verteidigen und weit mehr noch, ihn in die Herzen der Unwissenden zu pflanzen.
»Ich glaube, also rede ich«, pflegte der Inspektor zu sagen, wenn er von der Idee der Predigt sprach. »In der Predigt geht ihr über eure Grenzen hinaus. Ihr sollt euch erst ganz in den Text versenken und dann aus ihm wieder herauskommen und ihn der Gemeinde Löffel für Löffel eingeben.«
Johann legte die Schreibfeder beiseite, überflog noch einmal seine Notizen und begann, sich die ganze Predigt vorzusagen. Sie durfte nicht einfach nur heruntergeleiert werden. Es mußte ein Vortrag in freier, flüssiger Sprache sein, mit einem Duktus, der die Zuhörer fesselte, einer Betonung, die den Sinn der Worte verdeutlichte, mit kleinen und größeren Pausen, die das Gesagte unterstrichen.
Langsam ging Johann, während er seine Predigt vortrug, in dem kleinen Raum auf und ab. Die Gemeinde von schwarzen Kindern, die ihm vor Augen stand, hörte gebannt zu, ihre Herzen weit geöffnet für Gottes Wort. Durch das schmale Fenster fiel das Licht einer milden Oktobersonne. Auf der nördlich gelegenen Schwäbischen Alb hatten die frostigen Tage bereits eingesetzt. Die Stadt am Rheinknie hingegen profitierte noch von der mediterranen Luft, die warm das Rhone-Becken heraufwehte.
Basel war eine Handelsstadt. Der Güterverkehr auf dem Rhein sowie die Nähe zu den deutschen Fürstentümern im Norden und zu Frankreich im Westen hatten ihr beträchtlichen Wohlstand eingetragen. Die Tüchtigkeit ihrer Bewohner verband sich mit der protestantischen Tradition der Stadt. Die Tugenden, die Bankgeschäften und Handelsunternehmen zustatten kamen, kollidierten keineswegs mit dem Eifer, den Geboten Gottes gerecht zu werden. Gottesfurcht und Erwerbstrieb, Frömmigkeit und Bürgersinn gingen Hand in Hand.
Im Jahre 1815 hatten Baseler Bürger eine Missionsgesellschaft gegründet, die den verschiedenen Strömungen der reformierten Kirche eine gemeinsame Aufgabe stellte – die innere und äußere Mission. In den vier Jahrzehnten, die seitdem vergangen waren, hatte die Gesellschaft eine herausragende Stellung in den strenggläubigen, pietistischen Kreisen erlangt, unterstützt von zahlreichen Missionsvereinen, die besonders im Württembergischen viel Zulauf fanden. Die Baseler versorgten ihre Anhänger mit Schriften und Broschüren aus dem Calwer Verlag, aktuellen Informationen zu den religiösen und kirchlichen Fragen der Zeit. Hauptaufgabe abe